Einleitung
1. Biographisches
2. Lehmanns tiefe Gläubigkeit und seine Verankerung im II. Vatikanum
3. Das Phänomen Lehmann
- Lehman als Ausnahmepersönlichkeit
- Lehmann der Gerufene
- Lehmann, der geduldig Ungeduldige
- Die Institution Lehmann
4. Karl Lehmann der Überbrücker
5. Lehmann als Prellbock zwischen der katholischen Kirche in Deutschland und Rom
6. Von Johannes XXIII. über Karl Lehmann zu Franziskus
Schluss
Ich widme diesen Beitrag meinem Großvater Anton Jaeger, der in unmittelbarer Nähe des Mainzer Doms gelebt und gearbeitet hat.
Einleitung
Karl Kardinal Lehmann, 33 Jahre lang Bischof der Diözese Mainz und 21 Jahre lang Vorsitzender der Deutschen Ortsbischöfe, ist am 11. März 2018 von uns gegangen. Wer war dieser Karl Lehmann?
Im Alter von 57 Jahren charakterisierte er sich in einem KNA-Interview selbst: „Im Übrigen bin ich kein Typ, der schnell das Handtuch wirft. Zähigkeit und Ausdauer, Langmut und Unverdrossenheit sind neben Entschlossenheit und Ergreifen der Situation meine Lieblingstugenden, denen ich wenigstens nachjagen möchte. Ich habe in vielen Jahren gelernt, nicht so schnell aufzugeben.“
Die genannten Lieblingstugenden behielt Karl Lehmann sein Leben lang bei. Sie und viele andere Tugenden legten den Grund dafür, dass sich Karl Lehmann zu einem Ausnahmebischof entwickelte, der innerhalb und außerhalb der Kirche hochangesehen war und dessen Charisma kaum einen Menschen, dem er begegnete, unberührt ließ.
Als Kardinal Lehmann am 27.08.2017 seinen Nachfolger, Peter Kohlgraf, zum Bischof weihte, predigte er im Mainzer Dom: „Das Bischofsamt ist nicht zur persönlichen Ehre gegeben, sondern es ist eine Aufgabe, und der Bischof ist nicht dazu da, zu herrschen, sondern zu dienen.“
Diesen Anspruch hat Lehmann wie kaum ein Zweiter erfüllt. Er war Protagonist eines weltoffenen Katholizismus, der sich über den innerkirchlichen Bereich hinaus gesellschaftlichen Fragestellungen zuwandte, mit Nachdruck die Ökumene vorantrieb und sich für ein geeintes Europa mit christlichen Grundwerten einsetzte.
Trotz hohen Arbeitsdrucks und engem Terminkalender blieb er ein Seelsorger, der offen für die Anliegen der Menschen war, und ein Mensch, der seinen Humor nie verlor und auch in emotional aufgeladenen strittigen Auseinandersetzungen seinen freundlich-respektvollen Umgang mit den Menschen, mit denen er es zu tun hatte, beibehielt.
Auf den folgenden Seiten werde ich in mehreren Perspektiven Person und Wirken Karl Lehmanns zur Darstellung bringen.
Biographisches
Am 11. März,
dem Sonntag Laetare (Freue dich!), ist Karl Kardinal Lehmann im 82. Lebensjahr an
den Folgen eines Schlaganfalls, den er im Herbst 2017 erlitten hatte, gestorben.
Über seinem Sterbebett hing das Bild der Johannesminne aus der Klosterkirche Heiligkreuztal
in Oberschwaben.
Geboren wurde
Karl Lehmann am 16. Mai 1936 in dem an der Oberdonau gelegenen Sigmaringen, bis
1945 zu den preußischen Hohenzollernschen Landen gehörend. Nach Nordwesten hin
erstreckt sich die schwäbische Alb, nach Süden sind es 40 km bis zum Bodensee.
Das Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen sorgte dafür, dass es 1821 dem Erzbistum
Freiburg zugeteilt wurde, auch wenn das württembergische Rottenburg
geographisch deutlich näher lag.
Seine Eltern
kamen beide aus dem 15 km von Sigmaringen entfernten Ort Langenenslingen. Karl
Lehmann sen. war Volksschullehrer, seine Frau Gretel Buchhändlerin. Die Liebe
zum Buch – 120.000 Bücher im Mainzer Bischofshaus - und das Bestreben zum lebenslangen
Erweitern seines Bildungshorizonts sind ihm wohl in die Wiege gelegt worden.
Die Familie
Lehmann wurde durch die Zeit des Nationalsozialismus und den zweiten Weltkrieg
stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Dorfschullehrer Lehmann „ist in der Nazizeit sehr oft strafversetzt
worden – wir waren insgesamt, glaube ich, in zwölf Gemeinden.“ (Interview Kirchenzeitung
Mainz, Oktober 2013) An dem Tag, an dem der 6-jährige Karl einschult wurde, wurde
sein Vater zur Wehrmacht eingezogen. Seine erste heilige Kommunion empfängt er
am 8. April 1945 in aller Frühe, denn die Front ist nahe und man musste wegen
der alliierten Jagdbomber Vorkehrungen treffen. Wegen des Krieges ist sein
Vater nicht anwesend; die Familie hat seit Wochen nichts mehr von ihm gehört.
2013 erinnert Kardinal Lehmann: „Nie
werde ich die zögerlichen Schritte des Briefträgers vergessen, als er der
Großmutter vier Wochen nach der Hochzeit die Nachricht vom ‚Heldentod‘ des
Ältesten und des Erben des Bauernhofes überbrachte, er war auch mein geliebter
Taufpate.“ (Dankesrede bei einer Preisverleihung an der Uni Salzburg) Zudem
kehrte ein weiterer Bruder seiner Mutter aus dem Krieg nicht zurück. Man kann
sich vorstellen, wie groß die Erleichterung war, als Karl Lehmann sen. – wie
aus dem Nichts – im Juni 1945 in Langenenslingen auftauchte.
Im Alter von 12 Jahren wird Karl Lehmann in die zweite Klasse des Staatlichen Gymnasiums Sigmaringen
aufgenommen und zieht in das erzbischöfliche Knabenkonvikt St. Fidelishaus ein. Der Konviktler lernt Latein, Griechisch, Hebräisch und Französisch. Zwei
Jahre später folgt sein Bruder Reinhold nach. Als die Lehmann-Brüder 1951 beinahe
aus finanziellen Gründen das Gymnasium verlassen müssen, gelingt es dem Vater
auf eine Stelle in Veringenstadt zu wechseln. Von dort aus ist Sigmaringen in
20 Bahnminuten erreichbar.
Als Fahrschüler
ist Karl Lehmann so ab 14 Uhr zuhause und hat Gelegenheit seine sportlichen
Ambitionen auszuleben – Vereinsfußball als Stürmer, Fünfkampf, Turnen,
Skifahren. Von daher wundert es nicht, dass beim Einzug des FSV Mainz 05 in die
erste Bundesliga im Jahr 2004 eine Vereinsfahne aus dem Fenster des
Bischofshauses hing. In der Pfarrgemeinde St. Nikolaus wird Karl Ministrant,
Jugendgruppenleiter und ist natürlich häufig in der Pfarrbücherei zu finden.
Ein Lehrer
wurde für Karl Lehmann prägend: Prof. Dr. Rudolf Nikolaus Maier. Bei ihm lernte
er nicht nur Deutsch, Französisch und Philosophie, sondern dieser führte ihn
auch an die Grundfragen des Menschseins heran und veranlasste ihn, Romano
Guardini, Josef Pieper und Max Picard, aber auch moderne deutsche Literatur zu
lesen.
Bereits als
19-jähriger hatte der Oberprimaner das berufliche Ziel, sich in den Dienst von
Gott und den Menschen zu stellen. Lehmann studierte ein Jahr in Freiburg und
sieben Jahre in Rom Theologie und Philosophie und erwarb zwei Doktorgrade. Am
10. Oktober 1963 wurde Karl Lehmann durch Julius Kardinal Döpfner – ein
weiterer wichtiger Mentor - in Sant’ Ignazio, der zweiten Hauptkirche der
Jesuiten in Rom, zum Priester geweiht. Ab 1962 arbeitete er im Kontext des II.
Vatikanums Prof. Karl Rahner SJ zu, der ihn ab 1964 zu seinem
wissenschaftlichen Assistenten am Seminar für Christliche Weltanschauung und
Religionsphilosophie der Ludwig Maximilians-Universität München machte.
Mit 32 Jahren
übernahm Karl Lehmann den Lehrstuhl für Dogmatik und Theologische Propädeutik
an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und folgte drei Jahre später
einem Ruf an die Katholisch-Theologische Fakultät der Albert Ludwigs-Universität
seiner Heimatdiözese Freiburg.
1983 wurde Karl Lehmann durch Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Mainz ernannt. 1987 wurde er überraschend zum Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz gewählt und nach jeweils 6 Jahren drei Mal in diesem Amt bestätigt.
Am 21.02.2001 wird der Mainzer trotz seines jahrelangen Kampfes mit Rom ins Kardinalskollegium aufgenommen. Im Februar 2008 musste der Vorsitzende der deutschen Ortsbischöfe aus gesundheitlichen Gründen von diesem Amt zurücktreten. Beim Konklave 2013 konnte Kardinal Lehmann mit dazu beitragen, dass der Argentinier Jorge Mario Bergoglio SJ zum Papst gewählt wurde. Zum 80. Geburtstag (16. Mai 2016) nahm Papst Franziskus sein altersbedingtes Rücktrittsgesuch an.
Am 27. August 2017 war es dem emeritierten Bischof vergönnt, Professor Peter Kohlgraf zu dem ihm nachfolgenden Bischof von Mainz zu weihen und damit das Bistum in gute Hände zu übergeben. Diesem erzählte er von seinem Vorhaben, etwas Umfangreicheres über Romano Guardini zu schreiben, wozu es leider nicht mehr gekommen ist.
Man könnte sich fragen, warum Lehmann zeitlebens bei seinem Engagement für die Kirche auf den vernunftgeleiteten Dialog und auf tiefschürfende Begründungen setzte, obwohl er – wie er in einem Nachwort von 2016 lapidar konstatiert – Jahrzehnte lang an innerkirchlichen Konfliktthemen arbeitete, „ohne dass es bisher zu nennenswerten Ergebnissen kam.“ (2016, S. 262) Seine Antwort: Wir kommen von weit her und sind bei allen aktuellen Aufgeregtheiten dem Heute nicht ausgeliefert. Der Glaube, die Theologie und die Spiritualität verleihen uns den langen Atem, um ernsthafte und gediegene Reformen bewerkstelligen zu können. „Geduld und Ungeduld gehören hier auf eine seltsame Weise zusammen.“ (S. 263)
Neben seiner auf einem unerschütterlichen Glauben beruhenden Zuversicht waren es seine unmittelbaren Erlebnisse im Zusammenhang mit dem II. Vatikanischen Konzil und seine Identifikation mit dessen Grundideen, die ihn zum unermüdlichen Kämpfer für eine dynamische Kirche machte, die mit der „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (Gaudium et spes, 1) in enger Verbindung steht.
Im Sommer 1957 ergriff der Priesteramtskandidat Lehmann die Gelegenheit, sein in Freiburg begonnenes Studium in Rom im „Deutsch-Ungarischen Kolleg“ – dem Germanikum – fortzusetzen. Gut ein Jahr später wurde der 78-jährige Angelo Giuseppe Roncalli zum Papst gewählt, der bereits im Januar 1959 als Johannes XXIII. ein Konzil ankündigte. Der „Frate rossi“ – so wurden die Germaniker wegen ihres roten Gewandes genannt - war von Anfang an vor Ort dabei und erlebte insbesondere die Zeit zwischen Ankündigung und Beginn des Konzils (1962) als spannend und aufregend. In dieser vorkonziliaren Phase gaben sich die Spitzen der Theologie und des Weltepiskopats in Rom die Klinke in die Hand und es entstand eine dynamische Aufbruchsstimmung.
Zwei der Persönlichkeiten, die im Germanikum Quartier nahmen, sollten auf dem weiteren Lebensweg von Karl Lehmann eine besondere Rolle spielen: Der von Johannes XXIII. 1958 in den Kardinalsstand erhobene Altgermaniker Julius Döpfner – von 1961 bis 1976 Erzbischof von München und Freising - und der in Rom misstrauisch beäugte Jesuit und Dogmatiker Karl Rahner, später als Jahrhunderttheologe apostrophiert.
Für die damalige Zeit konziliaren Aufbruchs ist typisch, was Lehmann im November 1962 erlebte, als er seine philosophische Doktorarbeit verteidigte. Üblicherweise hätte der Promovend im Schlusskapitel den aus höherer katholischer Warte begrenzten Horizont des behandelten Phlilosophen – in diesem Fall Heidegger – herausstellen müssen. Lehmann wagte es, sich auf immanente Kritik zu beschränken, und hatte es der neuen Zeit zu verdanken, dass er nicht nacharbeiten musste.
Aus meiner Sicht sind es vier zentrale Begriffe des Konzils, die das repräsentieren, was Lehmanns konziliare Ausrichtung ausmacht: Aggiornamento, Zeichen der Zeit, Communio
und Synodalität.
Das Bild der weit aufgerissenen Fenster versinnbildlicht treffend das, was mit Aggiornamento (Verheutigung) gemeint ist. Die müde gewordene Kirche war auf frischen Wind angewiesen, um wieder Anschluss an die Gegenwart zu gewinnen. Dies war die Voraussetzung dafür, um Zukunft mitgestalten zu können. Für Karl Lehmann charakteristisch war sein entschiedenes Ja zur Gegenwart.
Lehmanns nicht nachlassender Eifer, seinen Bildungshorizont zu erweitern, war kein Selbstzweck, sondern sollte ihn dazu befähigen, die „Zeichen der Zeit“ zu lesen. Ihm ging es darum, drängende Themen in Kirche und Gesellschaft zu identifizieren, zu benennen
und anzupacken.
Die als Communio (Gemeinschaft) bezeichnete Kirche ist „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen Gentium, 1) Ein solches Verständnis umfassenden Austausches liegt Lehmanns Maxime zugrunde, auf den offenen und fairen Dialog zu setzen, der die verschiedenen Perspektiven mit einbezieht, um am Ende einen tragfähigen Konsens zu erzielen.
Während der Konzilszeit erlebte Lehmann mit, wie Synodalität von den Bischöfen der Weltkirche gegen eine ihre Macht mit Klauen und Zähnen verteidigende römische Kurie erkämpft wurde. Die katholische Kirche Deutschlands hat nach einem turbulenten Katholikentag 1968 in Essen mit konziliarem Elan eine Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971–75) auf den Weg gebracht, die sichtbares Zeichen des Aufbruchs des Volkes Gottes sein sollte.
Die Kirchenversammlung in Würzburg traf sich zu acht Sitzungsperioden und bestand aus rund 300 Delegierten – Bischöfen, Priestern und Laien -, die alle Stimmrecht hatten. Die etwa 50 Bischöfe erhielten ein präzise definiertes Vetorecht. Nachdem Kardinal Julius Döpfner wusste, was einem Karl Lehmann zuzutrauen war, beauftragte er ihn schon in der Auftaktphase, die Arbeit der Synode zu strukturieren. Eine Erfahrung, die Lehmann schon beim Konzil gemacht hatte, vertiefte sich während der Synode: „Die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, auch wenn man sehr unterschiedliche Positionen vertritt, und bei aller Unterschiedlichkeit doch in Dialog und Disput einzutreten, kann Wunder wirken …Das ist ein Lehrstück gewesen: man kann auch mit Leuten zurechtkommen, bei denen man es vorher nicht vermutet hat.“ (2016, S. 24)
Die Synodenerfahrungen haben sicher ihren Anteil an der herausragenden Kommunikationskompetenz des späteren Bischofs Lehmann, der, nachdem er 1987 zum Vorsitzenden der Deutschen Ortsbischöfe gewählt wurde, dieses Amt bis zu seinem
gesundheitlich erzwungenen Rücktritt 21 Jahre lang ausübte.
Karl Lehmann als Ausnahmepersönlichkeit
Es gibt viele Zeitgenossen, die davon berichten, dass eine Begegnung mit Karl Lehmann sie in besonderer Weise beeindruckte. Das kommt nicht von ungefähr, denn das Zusammenspiel von positiven menschlichen Eigenschaften, besonderen Talenten und klarer Lebensausrichtung machten ihn zu einer charismatischen Persönlichkeit.
Der junge Student in Freiburg und Rom imponierte als Überflieger. Im Sommer 1962 vollendete Karl Lehmann seine philosophische Dissertation „Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers“, die einen Umfang von 1500 Seiten hatte. Deren Qualität veranlasste seinen ehemaligen Philosophielehrer Max Müller, ihm vorzuschlagen, dieses Werk in zwei Teilen bei ihm einzureichen und damit Promotion und Habilitation zugleich zu erlangen. Doch Lehmanns wissenschaftliche Ambitionen galten der Theologie, was ihn allerdings nicht davon abhielt, zeitlebens den aktuellen philosophischen Diskurs mitzuverfolgen.
Im Frühjahr 1967 gelang es Lehmann, neben seiner hochbeanspruchendenden Tätigkeit als Assistent von Karl Rahner, innerhalb weniger Monate seine theologische Dissertation „Auferweckt am dritten Tag nach der Schrift“ zu erstellen. Zu der von der Gregoriana in Rom mit summa cum laude bewerteten Arbeit sagte Walter Kardinal Kasper, dass Lehmann mit einer exegetischen Detailkenntnis beeindruckt hätte, „wie sie damals ganz außergewöhnlich war und wie sie noch heute nur wenige Systematiker aufweisen können.“ (Laudatio zum 70. Geburtstag)
Lehmann führte gewissermaßen in einer Person zwei Leben. „Schon als Hochschullehrer war Karl Lehmann immer auch kirchenpolitischer Akteur, als Bischof und Konferenzvorsitzender ist er Professor geblieben“ (Ruh, 2001). Er war ein wissenschaftlicher und kirchenpolitischer Generalist, der trotz der Vielzahl der von ihm bearbeiteten Themen (über 4000 Publikationen) nie an der Oberfläche blieb, sondern sie bis zu deren Grund durchdrang. Dies gelang ihm, weil er ein unermüdlicher Arbeiter war, er über eine „brillante Gedanken- und Gedächtniskraft“ (Fuchs, 2018) verfügte und er in den Nächten Berge von Literatur verarbeitete.
Im Umgang mit Menschen hatte Lehmann keinerlei Berührungsängste. Er war von Haus aus uneitel und ging auf die Menschen offen, aufmerksam und freundlich zugeneigt zu. Mit seiner markanten Stimme und seinem herzerfrischenden Lachen, seiner Fähigkeit zuzuhören und über alles Mögliche ins Gespräch zu kommen, war er ein gern gesehener Gast - im kleinen Kreis wie auch auf großen Bühnen. Er überzeugte nicht nur durch seine intellektuellen und diplomatischen Fähigkeiten und seine Leitungskompetenz, sondern er ‚berührte mit seinem weiten Herzen die Menschen in der Seele‘ (Bedford-Strohm, 2018).
Philipp Gessler bekennt bei seinem Nachruf in der TAZ, dass ihm bei Karl Kardinal Lehmann nicht gelungen ist, was zum journalistischen Habitus gehört – nämlich kritische Distanz zu halten. „Ich fand diesen Mann, sobald ich das erste Mal über ihn las und erst recht, sobald ich ihn das erste Mal interviewen konnte, schlicht großartig und liebenswert. Und er vertrat immer den Teil meiner Kirche, der lange Jahre im Hintertreffen war, obwohl er, meiner Meinung nach, auf der richtigen Seite stand.“
Für viele aufgeschlossene Katholiken war der Ausnahmebischof mit seiner frischen und lebensnahen Art zu denken ein geistiger und geistlicher Zufluchtsort. (vgl. Öhler 2016)
Am 21.02.2001 wird der Mainzer trotz seines jahrelangen Kampfes mit Rom ins Kardinalskollegium aufgenommen. Im Februar 2008 musste der Vorsitzende der deutschen Ortsbischöfe aus gesundheitlichen Gründen von diesem Amt zurücktreten. Beim Konklave 2013 konnte Kardinal Lehmann mit dazu beitragen, dass der Argentinier Jorge Mario Bergoglio SJ zum Papst gewählt wurde. Zum 80. Geburtstag (16. Mai 2016) nahm Papst Franziskus sein altersbedingtes Rücktrittsgesuch an.
Am 27. August 2017 war es dem emeritierten Bischof vergönnt, Professor Peter Kohlgraf zu dem ihm nachfolgenden Bischof von Mainz zu weihen und damit das Bistum in gute Hände zu übergeben. Diesem erzählte er von seinem Vorhaben, etwas Umfangreicheres über Romano Guardini zu schreiben, wozu es leider nicht mehr gekommen ist.
Karl Lehmanns tiefe Gläubigkeit und seine Verankerung im II. Vatikanum
Als Karl Lehmann am 23. Juni 1983 im Alter von 47 Jahren von Johannes Paul II. zum Bischof der Diözese Mainz ernannt wurde, wählte er als seinen episkopalen Wahlspruch einen Vers des Apostels Paulus aus: „Seid wachsam, steht fest im Glauben, seid mutig, seid stark!“ (1. Kor 16.13) Er griff damit auf ein Leitbild zurück, das für ihn schon immer galt, und dem er bis an sein Lebensende treu blieb. Die Wachsamkeit war ihm bereits in die Wiege gelegt, wie man einer Notiz seiner Mutter Gretel entnehmen kann: „Sehr lebhafter Blick nach der Geburt.“ Bodenständigkeit, Festigkeit und Beharrlichkeit gehören zu seinen Charaktereigenschaften, allerdings nie in der Fehlform einer Verknöcherung, sondern immer offen für das Neue und in dem Bewusstsein, dass das als Gute erkannte sich nur in der Veränderung bewahren lässt.
Kardinal Walter Kasper bringt das in seiner Laudatio zum 70. Geburtstag Lehmanns so zum Ausdruck: „Natürlich ist Kardinal Lehmann bis auf die Knochen (und noch viel tiefer) konservativ, wenn es darum geht die grundlegenden menschlichen Werte und den überlieferten Glauben zu bewahren. Aber er weiß auch: Bewahren kann man nur durch bewähren, durch konstruktive Auseinandersetzung und durch geduldigen Dialog. Darin wiederum ist Karl Lehmann ganz progressiv.“
Was Mut und Entschlossenheit anbetrifft, so ist Karl Kardinal Lehmann für mich und für viele – auch nicht-katholische Menschen – ein beeindruckendes Vorbild, dessen innere Stärke sich in der fast biblischen Auseinandersetzung des Davids Lehmann mit dem Goliath Rom zeigte, als er sich Ende der 90er Jahre als Verhandlungsführer der großen Mehrheit der deutschen Ortsbischöfe für die Fortführung der Arbeit der katholischen Schwangerenkonfliktberatungsstellen innerhalb des staatlichen Systems der BRD einsetzte. Am Ende hatte er sich 1999 einem Machtwort Papst Johannes Pauls II. zu fügen und zeigte aus meiner Sicht seine Größe in der Niederlage, indem er trotz öffentlicher Düpierung bis 2008 Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz blieb. Lehmanns Biograph Daniel
Deckers schreibt in seinem Nachruf in der FAZ:
Immer wieder und zuletzt bei dem „Streit über den Verbleib der katholischen Kirche in Deutschland in der gesetzlichen Schwangerenkonfliktberatung … wurde der grenzenlos in die Macht des besseren Argumentes Vertrauende eines Besseren belehrt, ohne dass er darüber bitter wurde.“
Kardinal Walter Kasper bringt das in seiner Laudatio zum 70. Geburtstag Lehmanns so zum Ausdruck: „Natürlich ist Kardinal Lehmann bis auf die Knochen (und noch viel tiefer) konservativ, wenn es darum geht die grundlegenden menschlichen Werte und den überlieferten Glauben zu bewahren. Aber er weiß auch: Bewahren kann man nur durch bewähren, durch konstruktive Auseinandersetzung und durch geduldigen Dialog. Darin wiederum ist Karl Lehmann ganz progressiv.“
Was Mut und Entschlossenheit anbetrifft, so ist Karl Kardinal Lehmann für mich und für viele – auch nicht-katholische Menschen – ein beeindruckendes Vorbild, dessen innere Stärke sich in der fast biblischen Auseinandersetzung des Davids Lehmann mit dem Goliath Rom zeigte, als er sich Ende der 90er Jahre als Verhandlungsführer der großen Mehrheit der deutschen Ortsbischöfe für die Fortführung der Arbeit der katholischen Schwangerenkonfliktberatungsstellen innerhalb des staatlichen Systems der BRD einsetzte. Am Ende hatte er sich 1999 einem Machtwort Papst Johannes Pauls II. zu fügen und zeigte aus meiner Sicht seine Größe in der Niederlage, indem er trotz öffentlicher Düpierung bis 2008 Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz blieb. Lehmanns Biograph Daniel
Deckers schreibt in seinem Nachruf in der FAZ:
Immer wieder und zuletzt bei dem „Streit über den Verbleib der katholischen Kirche in Deutschland in der gesetzlichen Schwangerenkonfliktberatung … wurde der grenzenlos in die Macht des besseren Argumentes Vertrauende eines Besseren belehrt, ohne dass er darüber bitter wurde.“
Man könnte sich fragen, warum Lehmann zeitlebens bei seinem Engagement für die Kirche auf den vernunftgeleiteten Dialog und auf tiefschürfende Begründungen setzte, obwohl er – wie er in einem Nachwort von 2016 lapidar konstatiert – Jahrzehnte lang an innerkirchlichen Konfliktthemen arbeitete, „ohne dass es bisher zu nennenswerten Ergebnissen kam.“ (2016, S. 262) Seine Antwort: Wir kommen von weit her und sind bei allen aktuellen Aufgeregtheiten dem Heute nicht ausgeliefert. Der Glaube, die Theologie und die Spiritualität verleihen uns den langen Atem, um ernsthafte und gediegene Reformen bewerkstelligen zu können. „Geduld und Ungeduld gehören hier auf eine seltsame Weise zusammen.“ (S. 263)
Neben seiner auf einem unerschütterlichen Glauben beruhenden Zuversicht waren es seine unmittelbaren Erlebnisse im Zusammenhang mit dem II. Vatikanischen Konzil und seine Identifikation mit dessen Grundideen, die ihn zum unermüdlichen Kämpfer für eine dynamische Kirche machte, die mit der „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (Gaudium et spes, 1) in enger Verbindung steht.
Im Sommer 1957 ergriff der Priesteramtskandidat Lehmann die Gelegenheit, sein in Freiburg begonnenes Studium in Rom im „Deutsch-Ungarischen Kolleg“ – dem Germanikum – fortzusetzen. Gut ein Jahr später wurde der 78-jährige Angelo Giuseppe Roncalli zum Papst gewählt, der bereits im Januar 1959 als Johannes XXIII. ein Konzil ankündigte. Der „Frate rossi“ – so wurden die Germaniker wegen ihres roten Gewandes genannt - war von Anfang an vor Ort dabei und erlebte insbesondere die Zeit zwischen Ankündigung und Beginn des Konzils (1962) als spannend und aufregend. In dieser vorkonziliaren Phase gaben sich die Spitzen der Theologie und des Weltepiskopats in Rom die Klinke in die Hand und es entstand eine dynamische Aufbruchsstimmung.
Zwei der Persönlichkeiten, die im Germanikum Quartier nahmen, sollten auf dem weiteren Lebensweg von Karl Lehmann eine besondere Rolle spielen: Der von Johannes XXIII. 1958 in den Kardinalsstand erhobene Altgermaniker Julius Döpfner – von 1961 bis 1976 Erzbischof von München und Freising - und der in Rom misstrauisch beäugte Jesuit und Dogmatiker Karl Rahner, später als Jahrhunderttheologe apostrophiert.
Für die damalige Zeit konziliaren Aufbruchs ist typisch, was Lehmann im November 1962 erlebte, als er seine philosophische Doktorarbeit verteidigte. Üblicherweise hätte der Promovend im Schlusskapitel den aus höherer katholischer Warte begrenzten Horizont des behandelten Phlilosophen – in diesem Fall Heidegger – herausstellen müssen. Lehmann wagte es, sich auf immanente Kritik zu beschränken, und hatte es der neuen Zeit zu verdanken, dass er nicht nacharbeiten musste.
Aus meiner Sicht sind es vier zentrale Begriffe des Konzils, die das repräsentieren, was Lehmanns konziliare Ausrichtung ausmacht: Aggiornamento, Zeichen der Zeit, Communio
und Synodalität.
Das Bild der weit aufgerissenen Fenster versinnbildlicht treffend das, was mit Aggiornamento (Verheutigung) gemeint ist. Die müde gewordene Kirche war auf frischen Wind angewiesen, um wieder Anschluss an die Gegenwart zu gewinnen. Dies war die Voraussetzung dafür, um Zukunft mitgestalten zu können. Für Karl Lehmann charakteristisch war sein entschiedenes Ja zur Gegenwart.
Lehmanns nicht nachlassender Eifer, seinen Bildungshorizont zu erweitern, war kein Selbstzweck, sondern sollte ihn dazu befähigen, die „Zeichen der Zeit“ zu lesen. Ihm ging es darum, drängende Themen in Kirche und Gesellschaft zu identifizieren, zu benennen
und anzupacken.
Die als Communio (Gemeinschaft) bezeichnete Kirche ist „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen Gentium, 1) Ein solches Verständnis umfassenden Austausches liegt Lehmanns Maxime zugrunde, auf den offenen und fairen Dialog zu setzen, der die verschiedenen Perspektiven mit einbezieht, um am Ende einen tragfähigen Konsens zu erzielen.
Während der Konzilszeit erlebte Lehmann mit, wie Synodalität von den Bischöfen der Weltkirche gegen eine ihre Macht mit Klauen und Zähnen verteidigende römische Kurie erkämpft wurde. Die katholische Kirche Deutschlands hat nach einem turbulenten Katholikentag 1968 in Essen mit konziliarem Elan eine Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971–75) auf den Weg gebracht, die sichtbares Zeichen des Aufbruchs des Volkes Gottes sein sollte.
Die Kirchenversammlung in Würzburg traf sich zu acht Sitzungsperioden und bestand aus rund 300 Delegierten – Bischöfen, Priestern und Laien -, die alle Stimmrecht hatten. Die etwa 50 Bischöfe erhielten ein präzise definiertes Vetorecht. Nachdem Kardinal Julius Döpfner wusste, was einem Karl Lehmann zuzutrauen war, beauftragte er ihn schon in der Auftaktphase, die Arbeit der Synode zu strukturieren. Eine Erfahrung, die Lehmann schon beim Konzil gemacht hatte, vertiefte sich während der Synode: „Die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, auch wenn man sehr unterschiedliche Positionen vertritt, und bei aller Unterschiedlichkeit doch in Dialog und Disput einzutreten, kann Wunder wirken …Das ist ein Lehrstück gewesen: man kann auch mit Leuten zurechtkommen, bei denen man es vorher nicht vermutet hat.“ (2016, S. 24)
Die Synodenerfahrungen haben sicher ihren Anteil an der herausragenden Kommunikationskompetenz des späteren Bischofs Lehmann, der, nachdem er 1987 zum Vorsitzenden der Deutschen Ortsbischöfe gewählt wurde, dieses Amt bis zu seinem
gesundheitlich erzwungenen Rücktritt 21 Jahre lang ausübte.
Das Phänomen Lehmann
Karl Lehmann als Ausnahmepersönlichkeit
Es gibt viele Zeitgenossen, die davon berichten, dass eine Begegnung mit Karl Lehmann sie in besonderer Weise beeindruckte. Das kommt nicht von ungefähr, denn das Zusammenspiel von positiven menschlichen Eigenschaften, besonderen Talenten und klarer Lebensausrichtung machten ihn zu einer charismatischen Persönlichkeit.
Der junge Student in Freiburg und Rom imponierte als Überflieger. Im Sommer 1962 vollendete Karl Lehmann seine philosophische Dissertation „Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers“, die einen Umfang von 1500 Seiten hatte. Deren Qualität veranlasste seinen ehemaligen Philosophielehrer Max Müller, ihm vorzuschlagen, dieses Werk in zwei Teilen bei ihm einzureichen und damit Promotion und Habilitation zugleich zu erlangen. Doch Lehmanns wissenschaftliche Ambitionen galten der Theologie, was ihn allerdings nicht davon abhielt, zeitlebens den aktuellen philosophischen Diskurs mitzuverfolgen.
Im Frühjahr 1967 gelang es Lehmann, neben seiner hochbeanspruchendenden Tätigkeit als Assistent von Karl Rahner, innerhalb weniger Monate seine theologische Dissertation „Auferweckt am dritten Tag nach der Schrift“ zu erstellen. Zu der von der Gregoriana in Rom mit summa cum laude bewerteten Arbeit sagte Walter Kardinal Kasper, dass Lehmann mit einer exegetischen Detailkenntnis beeindruckt hätte, „wie sie damals ganz außergewöhnlich war und wie sie noch heute nur wenige Systematiker aufweisen können.“ (Laudatio zum 70. Geburtstag)
Lehmann führte gewissermaßen in einer Person zwei Leben. „Schon als Hochschullehrer war Karl Lehmann immer auch kirchenpolitischer Akteur, als Bischof und Konferenzvorsitzender ist er Professor geblieben“ (Ruh, 2001). Er war ein wissenschaftlicher und kirchenpolitischer Generalist, der trotz der Vielzahl der von ihm bearbeiteten Themen (über 4000 Publikationen) nie an der Oberfläche blieb, sondern sie bis zu deren Grund durchdrang. Dies gelang ihm, weil er ein unermüdlicher Arbeiter war, er über eine „brillante Gedanken- und Gedächtniskraft“ (Fuchs, 2018) verfügte und er in den Nächten Berge von Literatur verarbeitete.
Im Umgang mit Menschen hatte Lehmann keinerlei Berührungsängste. Er war von Haus aus uneitel und ging auf die Menschen offen, aufmerksam und freundlich zugeneigt zu. Mit seiner markanten Stimme und seinem herzerfrischenden Lachen, seiner Fähigkeit zuzuhören und über alles Mögliche ins Gespräch zu kommen, war er ein gern gesehener Gast - im kleinen Kreis wie auch auf großen Bühnen. Er überzeugte nicht nur durch seine intellektuellen und diplomatischen Fähigkeiten und seine Leitungskompetenz, sondern er ‚berührte mit seinem weiten Herzen die Menschen in der Seele‘ (Bedford-Strohm, 2018).
Philipp Gessler bekennt bei seinem Nachruf in der TAZ, dass ihm bei Karl Kardinal Lehmann nicht gelungen ist, was zum journalistischen Habitus gehört – nämlich kritische Distanz zu halten. „Ich fand diesen Mann, sobald ich das erste Mal über ihn las und erst recht, sobald ich ihn das erste Mal interviewen konnte, schlicht großartig und liebenswert. Und er vertrat immer den Teil meiner Kirche, der lange Jahre im Hintertreffen war, obwohl er, meiner Meinung nach, auf der richtigen Seite stand.“
Für viele aufgeschlossene Katholiken war der Ausnahmebischof mit seiner frischen und lebensnahen Art zu denken ein geistiger und geistlicher Zufluchtsort. (vgl. Öhler 2016)
Lehmann der Gerufene
Lehmann hatte es nie nötig, sich in Szene zu setzen oder nach vorn zu drängen, um eine bestimmte Position zu erringen.
Als der Freiburger Erzbischof Eugen Seiterich ihm nach einem Jahr Studium anbot, seine Ausbildung in Rom fortzusetzen, lag es ihm fern, an eine innerkirchliche Karriere zu denken. Das Studium in Freiburg entsprach eigentlich genau seinen Vorstellungen, und so war der ausschlaggebende Grund für den Wechsel an die Päpstliche Universität Gregoriana, dass er als Stipendiat seine Eltern finanziell entlasten konnte.
1959 schlugen seine Philosophieprofessoren ihn für eine Dissertation vor, was gar nicht im Sinne des Germanikers war, da es ihn in die Seelsorge zog. Er promovierte dann auf Anordnung des Freiburger Erzbischofs Schäufele.
Die Zusammenarbeit mit Karl Rahner von 1962 bis 67 ergab sich daraus, dass Rahner sehr schnell erkannte, wie vielfältig Lehmann einsetzbar und wie belastbar er war.
Lehmann war noch in der Planungsphase für seine Habilitation, in der er dem „verborgenen Gott“ nachspüren wollte, als ihm 1968 bereits der Lehrstuhl für Dogmatik und Theologische Propädeutik in Mainz angeboten wurde. Möglich war dies, weil Joseph Ratzinger und Karl Rahner Gutachten lieferten. Bereits 1971 konnte es sich der junge Professor aussuchen, ob er in Mainz bleibt oder nach Münster oder Freiburg wechselt. Ausschlaggebend für seine Entscheidung für Freiburg waren Bindungen zu seiner Heimatdiözese und ein für Lehmann erfreuliches Ergebnis bei den Berufungsverhandlungen: Die Einrichtung eines kleineren Ökumenischen Instituts. Das führte dann zu einer Erweiterung des Lehrstuhls für Dogmatik um das Gebiet Ökumenische Theologie.
Ab 1969 zog der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Döpfner, den Mainzer Professor immer stärker für verschiedene Aufgaben heran. Lehmann sollte die Würzburger Synode (1971 -75) konzipieren und wurde Berater der Glaubenskommision der Deutschen Bischofskonferenz.
Seit 1983 gab es ein neues Kirchenrecht, und das sah eine Stellvertretung für den Vorsitzenden der Ortsbischöfe vor. Das Gremium stellte 1985 dem 77 Jahre alten Kölner Erzbischof Joseph Höffner, den mit 49 Jahren jüngsten Ortsbischof Karl Lehmann zur Seite. Zwei Jahre später ist das Amt des Vorsitzenden neu zu besetzen, das nach traditioneller Gepflogenheit auf den Erzbischof von München und Freising, Kardinal Wetter, zugekommen wäre. Doch die Konferenz ist anderen Sinns und ruft den Bischof von Mainz an die Spitze.
Lehmann der geduldig Ungeduldige
Lehmann war Realitäts- und Menschennah und wusste aus direkten Gesprächen, wo die Gläubigen der Schuh drückte. Für ihn war selbstverständlich, dass die Gesetze für den Menschen und nicht der Mensch für das Gesetz da zu sein hatte. Gemäß dieser Maxime war die kirchliche Lehre stets am gelebten Leben zu messen. (Vgl. ÖAK, Nachruf 2018)
Als Seelsorger, als der sich Lehmann immer verstand, nahm er wahr, wenn bestimmte Anliegen in der Amtskirche keinen Widerhall fanden und pastorale Probleme ungelöst blieben. Als Theologe von Rang wusste er die katholische Lehre auszudeuten und Möglichkeitsräume aufzuspüren. Als Kirchenpolitiker war ihm bekannt, wie Problemlösungen auf den Weg zu bringen waren.
In der Würzburger Synode kämpfte er für die Laienpredigt und den Diakonat der Frau. 1987 verteidigte er die Königsteiner Erklärung, und 1994 macht er sich mit zwei Bischofskollegen daran, für die Nöte von wiederverheiratet Geschiedenen Lösungen anzubieten. Im ökumenischen Bereich räumt er in theologischer Kleinarbeit trennende Hindernisse zur Seite und bei der gesetzlichen Neuregelung der Abtreibungsproblematik stellt er sich an die Seite der Frauen und engagiert sich für den Schutz des ungeborenen Lebens. Noch nicht erwähnt habe ich den Zölibat, die „viri probati“ und weitere Themen.
Was hat der Bischof von Mainz erreicht? Andreas Öhler (2016) fasst dessen Bemühungen in ein drastisches Bild: „Kardinal Lehmann war der Sisyphos unter den deutschen Bischöfen. Unermüdlich rollte er seinen ihm zugelosten Stein den Felsen Petri hinauf.“
Was an dem Bild stimmt, ist, dass Karl Lehmann beharrlich die Aufgaben anpackte, die aus seiner Sicht dran waren und sich dabei von möglichen Misserfolgen nicht abhängig machte. Was das Bild nicht vermittelt, ist, dass sein Tun nicht vergeblich war. Lehmann war ein Hoffnungsträger, der vielen Gläubigen vorlebte, dass Katholizität auch etwas anderes bedeuten kann als blinder Gehorsam und reine Lehre. (vgl. Florin 2018) Und er zeigte auf, worauf es ankommt, nämlich mit sich selbst und Gott im Reinen zu sein, auch wenn man zwischen allen Stühlen sitzt und von Schlägen aus verschiedenen Richtungen getroffen wird. Lehmann hat sich immer als Diener im Auftrag des Herrn verstanden, der die Seinen nicht im Stich lässt und alles zu einem guten Ende führen wird. Dass der Kardinal 2013 daran mitwirken konnte, dass ein neuer Papst „vom anderen Ende der Welt“ auftaucht, der dann seine Agenda fortführt, damit war gleichwohl nicht zu rechnen.
Die Institution Lehmann
Bei seiner Homage zu Lehmanns 70. Geburtstag bezeichnete Kardinal Walter Kasper den Jubilar treffend als „Institution“. Für diesen Ehrentitel würde allein sein Wirkungszeitraum von 33 Jahren als Diözesanbischof und 21 Jahren als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz hinreichen. Zum Ausdruck kommt damit aber vor allem die einzigartige Qualität und Quasi-Unersetzbarkeit des Mainzers, der sich unerschrocken innerkatholischen, interkonfessionellen oder gesellschaftlichen Konfliktfeldern zuwandte und mit seiner Kompetenz, Beharrlichkeit und Dialogfähigkeit an vielen zukunftsweisenden Entwicklungen und Lösungen großen Anteil hatte.
Seine nicht wenigen Gegner sahen das anders, gaben ihm aber die Ehre mit der abschätzig gemeinten Wortschöpfung „Lehmann-Kirche“. Der Begriff kam auf, als der Vorsitzende der deutschen Ortsbischöfe Ende der 90er Jahre für die weitere Mitwirkung von katholischen Schwangerenberatungsstellen innerhalb des staatlichen Systems kämpfte. Seine Kritiker unterstellten im Verbandelung mit der Politik, Verweltlichung und Verdunkelung des kirchlichen Zeugnisses. Seine differenzierten Stellungnahmen wurden ihm als laxes Ausweichen vor Eindeutigkeit und klarem Urteil ausgelegt.
Letztlich wurde Lehmann stellvertretend für alle die Katholiken angegriffen, die Probleme mit einer zentralistischen und autokratischen Kirche hatten, die die Diskussion von Reformanliegen per Dekret von oben unterband. Wer sich je mit dem Bischof von Mainz beschäftigt hat, kann ihm seine Spiritualität, seine Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen und seine Bereitschaft, mit langem Atem nach Lösungen zu suchen nicht absprechen.
Welch respektable Verdienste sich Kardinal Lehmann erworben hat, hat Kardinal Walter Kasper in der schon erwähnten Rede ausbuchstabiert:
„Kardinal Lehmann hat seine Stimme erhoben für das Leben, das geborene wie das ungeborene, für die Würde der Kranken, der Behinderten, der Sterbenden und das Recht auf den natürlichen Tod. Er hat sich eingesetzt für Ehe und Familie, für die Frauen, für soziale Gerechtigkeit, für Frieden, für Toleranz und gegenseitigen Respekt zwischen den Religionen; immer hat er zu Verständigung und Versöhnung aufgerufen. Auch an komplizierte Themen wie die der Bioethik wagte er sich heran und das mit erstaunlicher Sachkenntnis. Immer hat er klar, aber auch verbindlich gesprochen. So ist Kardinal Lehmann auch in seinen öffentlichen Stellungnahmen ein Mann des Dialogs geblieben und damit geradezu zu einer öffentlichen Institution geworden.“
Von Nikolaus von Kues stammt ein Satz, der dem Phänomen Lehmann durchaus angemessen ist: „Die Größe eines Menschen zeigt sich darin, wie viele Gegensätze er in sich vereinigt.“
Karl Lehmann der Überbrücker
Im Jahr 2013 gab
Kardinal Lehmann bei einer Dankesrede preis, welche Erwägungen in
umtrieben,
bevor er im Juni 1983 sein Ja-Wort zur Übernahme des Bischofsamtes in Mainz
gab.
„Die Aufgabe, Brücken zu
bauen, wo keine Pfeiler mehr erkennbar waren, war eine Aufgabe, die nach meiner
Überzeugung den Theologen und das bischöfliche Amt forderte, brauchte und
stützte – und zwar auch in derselben Person.“
Im
Bild der eingestürzten Brücke könnte zweierlei zum Ausdruck kommen. Zum einen
war es in der nachkonziliaren Zeit zu einer zunehmenden Entfremdung von akademischer
Theologie und oberstem kirchlichem Lehramt gekommen, zum anderen war 1981 das nachsynodale
Schreiben Familiaris consortio von Johannes
Paul II. erschienen. Darin bekräftigt der Papst die Aussagen von Humanae vitae von 1968 zur
Empfängnisregelung – die geschlechtliche Vereinigung wird „durch die Empfängnisverhütung zu einer objektiv widersprüchlichen Gebärde“ (FC 32) – und er „verbietet es jedem Geistlichen, aus welchem Grund oder Vorwand auch immer, sei er auch pastoraler Natur, für Geschiedene, die sich wiederverheiraten, irgendwelche liturgischen Handlungen vorzunehmen.“ (FC 84)
Die Empfängnisverhütung betreffend, waren die deutschen Ortsbischöfe unter Führung von Kardinal Julius Döpfner mit der Königsteiner Erklärung vom August 1968 einen von der römischen Linie abweichenden Weg gegangen, um eine Spaltung des deutschen Kirchenvolks zu verhindern, und zur Pastoral wiederverheiratet Geschiedener hatte sich Lehmann bereits 1972 geäußert. „Jeder Seelsorger und viele Katholiken kennen das dornenreiche Problem: Gegenüber wiederverheiratet Geschiedenen gelangt die pastorale Sorge rasch in eine fast unausweichliche Sackgasse.“ (Unauflöslichkeit der Ehe und Pastoral für wiederverheiratete Geschiedene)
Wer bei dem Vorhaben Brückenbauen ohne manifeste Pfeiler denkt, hier leide jemand an Selbstüberschätzung, kennt Karl Lehmann nicht. Der Hohenzoller hat immer wieder Problemstellungen, die nach einer Lösung verlangten, unerschrocken angepackt und dabei nicht nach den Erfolgsaussichten gefragt, sondern auf seine intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten vertraut und seine Hartnäckigkeit und seine auf Gottvertrauen beruhende Zuversicht in die Waagschale geworfen.
Als jemand, der sich das Generalthema des Konzils „Ecclesia ad intra et ad extra“ (Blick auf das Wesen der Kirche nach innen und auf ihre Stellung und Sendung nach außen) zu eigen gemacht hatte, sah sich Lehmann als Mann des Dialoges in alle Richtungen gefordert. Nach innen ging es darum, eine Kompromisslinie zwischen vorwärtsdrängenden Erneuerern und restaurativen Kräften zu finden und nach außen galt es, in den Diskurs mit Gesellschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft einzutreten. Ein Hauptanliegen, dem sich Lehmann über Jahrzehnte verschrieb, war der ökumenische Dialog.
Das Ringen um Konsense kannte Lehmann aus der Zeit der Würzburger Synode (1971-75), die sich zur Aufgabe gestellt hatte, das II. Vatikanum in die deutschen Verhältnisse hinein zu konkretisieren. Lehmann wirkte als gewählter Vertreter des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) schon bei der Vorbereitung mit, war während der Synode inhaltlich bei dem Thema Laienpredigt in der Messe federführend und entwickelte sich mehr und mehr zur rechten Hand des Präsidenten dieser innovativen Kirchenversammlung, Julius Kardinal Döpfner. Bei Themenstellungen mit nationaler Zuständigkeit brachte die Synode einiges voran, wohingegen Themen, die nur in Form eines Votums an den Heiligen Stuhl eingebracht werden konnten – wie Laienpredigt und Diakonat der Frau - stecken blieben. Das wichtigste Gremium, das aus der Synode hervorging, war die Gemeinsame Konferenz – 10 Bischöfe und 10 Vertreter des Zentralkomitees der deutschen Katholiken trafen sich zwei Mal im Jahr. Lehmann war hier 40 Jahre Mitglied und wirkte brückenbildend zwischen katholischen Laien und kirchlichen Amtsträgern.
Als Ende 1988 Papst Johannes Paul II. gegen das Metropolitan-Kapitel Kölns den Berliner Kardinal Meisner auf den erzbischöflichen Stuhl gehievt hatte, verfassten Theologieprofessoren ein Memorandum – Kölner Erklärung -, mit dem sie gegen die Überdehnung römischer Machtausübung protestierten und das weltweit von über 700 Theologinnen und Theologen unterzeichnet wurde. Lehmann machte aus der Not eine Tugend und überbrückte die Kluft zwischen akademischer Theologie und dem kirchlichen Lehramt, indem er die Mainzer Gespräche einrichtete. Das von ihm bis ins Jahr 2018 geleitete Forum fand regelmäßig halbjährlich statt.
Mit dem Fall der Mauer 1989 war Lehmann der richtige Mann an der richtigen Stelle, denn es ging darum, die katholischen Kirchen von Ost- und Westdeutschland zusammenzuführen. Er war vor Ort sehr präsent, an erster Stelle, um zuzuhören und zu lernen; Besser-Wessi-Attituden lagen ihm fern. Die anstehenden Entwicklungen begleitete er sachbezogen und umsichtig abwägend.
Lehmanns Engagement für die Ökumene begann bereits 1969, als er als junger Dogmatik-Professor in Mainz in den seit 1946 bestehenden Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen (ÖAK) berufen wurde. Motiviert war er weniger aus theologischem Interesse, sondern weil er die Nöte der von Mischehen – so die damalige Bezeichnung – Betroffenen wahrnahm. In seiner Dankesrede 2013, gab er über die Richtschur seines ökumenischen Wirkens Auskunft. „Vorurteile abbauen, wo es nur möglich ist; den Reichtum anderer anerkennen; das Verständnis eigener Überzeugungen fördern; praktische Zusammenarbeit erweitern.“ Insbesondere in den 80er Jahren erwarb sich Lehmann Verdienste, als die Aufarbeitung der wechselseitigen Lehrverurteilungen der Konfessionen in Angriff genommen wurde. Von dem 1986 vorgelegten 200-Seiten-Papier Lehrverurteilungen - kirchentrennend machte der Rechtfertigungsteil Karriere, indem er 1999 zum Augsburger Beschluss wurde. Die Themenbereiche Eucharistie und Amt blieben allerdings außen vor. Lehmanns Resümee 2016 („Mit langem Atem“) fällt eher ernüchternd aus: „Was die Theologie erarbeitet hat, muss ja, wenn es fruchtbar werden soll, auch vom verantwortlichen Amt in der Kirche aufgenommen werden … Da ist aber theologisch viel vorgearbeitet worden, was nachher einfach brach liegen blieb.“ Umso größer war die Freude des Ökumenikers, als er im gleichen Jahr als erster und einziger Katholik in Anerkennung seiner Verdienste die höchste Auszeichnung, die die evangelische Kirche zu vergeben hat, entgegennahm, die Martin-Luther-Medaille.
Lehmann als Prellbock zwischen der katholischen Kirche in Deutschland und Rom
Eine erste Friktion zwischen Karl Lehmann und Rom gab es
bereits im Jahr 1977. Der Freiburger Erzbischof Hermann Schäufele war im Juli
gestorben und das Domkapitel, angeführt von Generalvikar Robert Schlund, sah in
dem 41-jährigen Karl Lehmann den allseits erwünschten Kandidaten für das frei
gewordene Amt. Schlund kannte Lehmann aus den Jahren 1956/57, als dieser
Student und er Direktor des Theologenkonvikts Borromäum in Freiburg war.
Lehmanns Name war einer von Dreien, die auf einer Liste standen, die nach Rom
zu schicken war. Als die römische Terna zurückkehrt, ist der Name Lehmann
gestrichen. Anschließende Recherchen ergaben, dass weder beim apostolischen Nuntius
noch im vatikanischen Staatssekretariat – Lehmann wurde am 26.03.1979 Päpstlicher Ehrenprälat - etwas gegen Karl
Lehmann vorlag. Lehmanns Biograph deutet an, dass es an der Freiburger
theologischen Fakultät Gegner des Dogmatik-Professors gab, die sich diskret bei
den entsprechenden Hierarchen in Rom gemeldet hätten. Nach meiner Einschätzung
reichte Lehmanns dezidiertes Engagement für unerwünschte Neuerungen in der
Kirche – während der Würzburger Synode (1971–75) – völlig aus, um ihn am Tiber
zur Persona non grata werden zu lassen.
Dass Lehmann am 5. Juni 1983 das Amt des Bischofs von Mainz angetragen wurde, ist darauf zurückzuführen, dass der bisherige Amtsinhaber, Kardinal Hermann Volk, sich in Rom für den gewünschten Nachfolger stark machte. Johannes Paul II. war – bevor er Papst wurde - dreimal in Mainz, und in dieser Zeit war zwischen Kardinal Volk und dem Krakauer Kardinal Wojtyla eine Freundschaft entstanden.
Dem Auserkorenen fiel es alles andere als leicht, sein Professoren-Dasein in Freiburg und seine akademischen Zukunftspläne aufzugeben. Aber sein Versprechen – „adsum“ („ich bin bereit“) - bei der Priesterweihe, sich der Kirche zur Verfügung zu stellen, wog für ihn schwerer als seine persönlichen Präferenzen. Ein mit ausschlaggebender Gesichtspunkt für seine Entscheidung, sich in die Pflicht nehmen zu lassen, war folgender:
„Die Stunde der Kirche brauchte Bischöfe, die vom Konzil überzeugt und in der Lage waren, sich in die unvermeidlichen Auseinandersetzungen zu stellen. Darin hatte ich Erfahrung.“ (Lehmann, Dankesrede 2013)
Lehmann war aufgrund seiner Synodenerfahrung und seines engen Kontaktes zu Kardinal Döpfner – den er als väterlichen Freund bezeichnete und dessen Konzilsring er von seiner Bischofsweihe an trug - sehr bewusst, dass der Kampf mit Rom weiterhin auf der Tagesordnung stand.
„Spannungen zwischen Rom und Deutschland haben Tradition. Schon beim Ersten Vatikanischen Konzil 1870 waren die deutschen Bischöfe gegen die Unfehlbarkeit des Papstes. Gut ein Jahrhundert später standen die Beziehungen wieder unter Hochspannung.“ (Florin, Nachruf 2018)
Am 25. Juli 1968 – der gleiche Tag, an dem Lehmann als Ordinarius an die Johannes
Gutenberg-Universität in Mainz berufen wurde – wurde die Enzyklika Humanae vitae Pauls VI. veröffentlicht. „Die Antwort der Enzyklika schlug in Deutschland ein wie eine Bombe, denn die Erwartung war in eine ganz andere Richtung gegangen.“ (Karl Kardinal Lehmann 1993; 2006, S. 176) Die seelsorgliche Praxis in Deutschland hatte „die Wahl der Methoden verantwortlicher Elternschaft weitgehend dem Gewissensurteil der Eheleute überlassen.“
Mit Humanae vitae verbot Papst Paul VI. kraft authentischer Lehrentscheidung Eheleuten den Gebrauch von „künstlichen“ Empfängnisverhütungsmitteln. Der gesellschaftliche Protest der 68er gegen überkommene Autoritäten fand jetzt seinen Angriffspunkt in der katholischen Kirche. Der deutsche Episkopat reagierte rasch auf die brisante Lage und formulierte am 30.08.1968 in der sogenannten Königsteiner Erklärung:
„Wer glaubt, … von einer nicht unfehlbaren Lehre des kirchlichen Amtes abweichen zu dürfen …, muss sich nüchtern und selbstkritisch in seinem Gewissen fragen, ob er dies vor Gott verantworten kann.“
Für Rom war dies ein Affront, der ein fast ein halbes Jahrhundert währendes Spannungsverhältnis zwischen dem Vatikan und der deutschen katholischen Kirche einläutete.
Als der Bischof von Mainz am 22.09.1987 im Alter von 51 Jahren zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gewählt wurde, trat er bewusst in die Fußstapfen des von ihm verehrten Kardinals Julius Döpfner und hielt das Vermächtnis seines Vorvorgängers hoch. Papst Johannes II. verlangte bereits beim Antrittsbesuch des neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz am 4. Dezember 1987 nachdrücklich, die Königsteiner Erklärung zurückzunehmen. Lehmann blieb standhaft und sagte dem Papst für 1993 – dem 25. Jahrestag - ein Grundlagenpapier zum Verhältnis von Humanae vitae und Königsteiner Erklärung zu, woran er sich auch hielt. (Veröffentlicht in: Zuversicht aus dem Glauben, 2006, S. 175–200)
Mit der Übernahme des Amtes des Vorsitzenden der deutschen Ortsbischöfe hatte Lehmann in mehrerlei Hinsicht eine Prellbockfunktion. Er hatte die Aufgabe, Reformen fordernde und traditionsverhaftete Gläubige in deutschen Landen nicht auseinanderdriften zu lassen, er hatte sich in der Bischofskonferenz mit Antipoden herumzuschlagen, die einen engen Draht nach Rom hatten – genannt seien die Namen Joachim Meisner und Johannes Dyba –, und er hatte sich über einen langen Zeitraum hinweg mit der auf einer gemeinsamen Linie agierenden Doppelspitze der Katholischen Kirche - Papst Johannes Paul II. und dem Präfekten der Glaubenskongregation, Josef Kardinal Ratzinger, - auseinanderzusetzen.
Lehmann hatte viel Geduld mit seiner Kirche. Aber wenn er auf pastorale Probleme stieß, wo es aus seiner Sicht nur wegen der Unbeweglichkeit der Amtskirche nicht voranging, dann war er bereit zu kämpfen und sich gegen den innerkirchlichen Mainstream zu stellen. Als sich die Deutsche Bischofskonferenz in der Frage der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion nicht auf ein Votum an Rom einigen konnte, tat er sich mit seinen beiden Bischofskollegen der Oberrheinischen Provinz – Oskar Saier und Walter Kasper – zusammen, und sie veröffentlichten 1993 ein Hirtenwort, in dem Grundsätze für eine seelsorgliche Begleitung von Menschen aus gescheiterten Ehen entwickelt wurden. Sie argumentierten, dass man die Einzelfälle prüfen müsse und man keinen Alles-oder-nichts-Standpunkt vertreten dürfte. Kardinal Ratzinger stoppte als Präfekt der römischen Glaubenskongregation die Initiative abrupt. Ihm war dabei ebenso wie den oberrheinischen Bischöfen bekannt, dass ein liberaler seelsorgerlicher Umgang mit den schicksalhaft getroffenen Gläubigen längst gemeindlicher Alltag war.
Der heftigste und schwerwiegendste Konflikt mit dem Vatikan, den Karl Lehmann als Vorsitzender der deutschen Ortsbischöfe auszutragen hatte, war der Streit über die Schwangerenkonfliktberatung. Zur Wendezeit 1989 trafen mit der Fristenregelung der DDR und der Indikationsregelung der BRD unterschiedliche Rechtsnormen aufeinander. Bei der emotional aufgeladenen gesellschaftlichen Debatte um eine Neuregelung der Abtreibungsfrage sahen auf der einen Seite „liberale Kräfte nun die Chance, eine Regelung nach dem Vorbild der DDR in ganz Deutschland durchzusetzen. Auf der anderen Seite gab es in der katholischen Kirche Kräfte, die auf eine restriktivere Regelung hofften. Die große Nähe, auch die personelle Verknüpfung zwischen CDU und katholischer Kirche machten den Konflikt brisant. Es waren Helmut Kohl und Karl Lehmann, die sich einen Kompromiss ausdachten bzw. sich zu eigen machten: Er sah vor, dass Abtreibung verboten ist, aber unter bestimmten Umständen straffrei bleibt.“ (Resing, Nachruf 2018)
Lehmann ging der Abtreibungsproblematik in seinem Eröffnungsreferat - Beratung zwischen Lebensschutz und Abtreibung - bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischöfe 1992 in Fulda auf den Grund. Sein Fazit lautete, dass es der Kirche nicht erlaubt ist, „sich vorschnell aus komplexen und schwierigen Situationen unserer Gesellschaft zurückzuziehen. Auch ein Rückzug in eine vermeintlich eindeutigere und heile Welt kann schuldig machen. Wer gibt zum Beispiel die Ermächtigung, auf die Rettung vieler ungeborener Kinder und die Ermutigung vieler schwangerer Frauen zu verzichten, indem man seinen Auftrag nicht mehr in dem gesetzlichen Beratungssystem erfüllt?“ (Lehmann 2006, S. 169)
Am 29. Juni 1995 beschließt der Bundestag eine Neuregelung des Paragraphen 218. Abtreibungen bleiben straffrei, wenn eine betroffene Frau die Teilnahme an einer Konfliktberatung (Beratungsschein) nachweist und eine 12-Wochen-Frist einhält. Die Bischöfe kritisieren auf ihrer Herbstvollversammlung das neue Gesetz als "lückenhaft und mehrdeutig", beschließen aber, es den Beratungsstellen vorläufig nicht zu untersagen, Beratungsbescheinigungen auszustellen.
In den folgenden Jahren kommt es zu einem Tauziehen zwischen Rom und der deutschen Bischofskonferenz. Karl Lehmann muss sich nicht nur mit dem Vatikan, sondern auch mit Erzbischof Dyba und später Kardinal Meisner auseinandersetzen, die aus der Phalanx der
deutschen Bischöfe ausscheren.
Am 18.09.1999 wird auf Anweisung des Papstes im Vatikan ein Brief erstellt, in dem es unmissverständlich heißt: „Würde der Schein weiterhin als Zugang zur Abtreibung dienen, wäre der ... Vorwurf berechtigt, dass die Kirche eine bloß theoretische Aussage ohne reale Konsequenzen macht. Dem Heiligen Vater liegt es außerordentlich am Herzen, dass die Kirche ... alles meidet, was als Doppeldeutigkeit oder Mangel an Klarheit interpretiert
werden könnte."
Obwohl damit der Zwangsausstieg aus der gesetzlichen Konfliktberatung besiegelt ist, wenden sich Anfang Oktober zwölf deutsche Bischöfe in einem gemeinsamen Brief an Papst Johannes Paul II. und ersuchen ihn um Antwort auf die Frage, wer die Verantwortung dafür übernehmen solle, dass die katholische Kirche nach einem Ausstieg das ungeborene Leben nicht mehr so wirksam schützen könne wie bisher. Im Erwiderungsschreiben von Kardinalstaatssekretär Sodano bekräftigt dieser die bindende Wirkung der Weisung vom September und erklärt die Gewissensnot der Bischöfe für unmaßgeblich.
Während seines Ad-limina-Besuches am 18. November übergibt Bischof Lehmann in einem allerletzten Versuch dem Papst einen Brief, in dem er verzweifelt anfragt, ob es wirklich nicht möglich ist, „wenigstens ‚ad experimentum‘ für einige Jahre eine Pluralität von Beratungsweisen zu erlauben …, bis manche Probleme auch staatlicherseits besser gelöst sind und ein einheitliches Vorgehen auch kirchlicherseits wieder erreichbar ist.“ (Deckers, S. 338) Die Antwort des Papstes trifft am 20. November per Fax ein: „… ich es in einem hohen Maß für schädlich halte, in einer so kennzeichnenden Angelegenheit zwei verschiedene Vorgehensweisen innerhalb desselben Episkopats zu akzeptieren.“
„Vier Jahre lang bot Lehmann Papst Johannes Paul II. die Stirn, versuchte zu vermitteln zwischen deutscher Politik und vatikanischer Moral. Weil der Papst allerdings am Ausstieg festhielt, hätte weiterer Widerstand für Lehmann wohl den Rückzug vom Bischofsamt bedeutet. ‚Wir haben so lange gekämpft. Wir haben verloren‘, konstatierte er enttäuscht und sagte in seiner schwärzesten Stunde: ‚Jetzt müssen wir aber in die Zukunft hin das Beste machen, sonst hängt man immer an den alten Auseinandersetzungen, die nichts mehr bringen.‘ Ein anderer hätte auf eine solche Niederlage wohl mit Verbitterung, Resignation oder Zynismus reagiert. Lehmann dagegen gründete im Januar 2001 in seinem Bistum das ‚Netzwerk Leben‘ für Frauen in Notsituationen.“ (Vera Schmidberger, SWR AKTUELL, 11.03.2018)
Jahrelang hatte Rom den Bischof von Mainz bei Kardinalskreierungen nicht berücksichtigt. Am 21. Januar 2001 ernennt Johannes Paul II. 37 neue Kardinäle - so viele auf einmal, wie das noch bei keinem Papst vor ihm der Fall war. Der seit über 13 Jahren Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz ist nicht darunter. Daraufhin wurden „Geistliche und Laien, In- und Ausländer … in Rom vorstellig“ (Hans Maier, Laudatio 2013) – einer davon war der Bischof der Diözese Opole (Oppeln), Alfons Nossol, - und die römische Vernunft setzte sich doch noch durch. Am 26. Januar erfährt Lehmann von der Apostolischen Nuntiatur in Bonn, dass er nachnominiert ist. Endlich kam Kardinal Lehmann dort an, wo er hingehörte. Er war nach dem heilig gesprochenen Kardinal Carlo Borromeo getauft, vollendete seine 8-jährige wissenschaftliche Ausbildung in Rom mit zwei Doktortiteln und hatte seit jeher eine Affinität zu dem römischen Sinn für Ordnung und Eintracht.
Es ist für Karl Lehmann bezeichnend, dass er, - der sich bereits 1987 gezwungen sah, in fundamentale Auseinandersetzungen mit Rom einzutreten - seinen mächtigeren Gegenspielern Josef Ratzinger und Johannes Paul II. nach seiner Kardinalserhebung versöhnlich entgegentrat: „Als ich zum Kardinal ernannt wurde, war es für mich das allerwichtigste, dass Johannes Paul II. über den Schatten des Streits um die Schwangerenkonfliktberatung gesprungen ist. Er hat es mir nicht übel genommen, dass ich in aller Hartnäckigkeit vier, fünf Jahre eine andere Position als er vertreten habe.“ (Nichtweiß, Hrsg.: Gott ist größer als unser Herz, 2006)
Von Johannes XXIII. über Karl Lehmann zu Franziskus
Als wichtiger Zeitzeuge wurde Karl Kardinal Lehmann häufig im Laufe seines Lebens auf das II. Vatikanum angesprochen. Johannes XXIII. erlebte er als „eindrucksvolle Figur“, die den Mut hatte, den Konzilsprozess als eine „Erneuerung der Kirche im Lichte der ‚Zeichen der Zeit‘“ (Lehmann, Dankesrede 2013) voranzutreiben, auch wenn er dabei institutionelle Einsamkeit erlebte.
Die von Johannes XXIII. in Gang gesetzte Aufbruchsdynamik drängte den überzogenen Zentralismus
der Kurie zurück und eröffnete nach innen Räume für synodalen Austausch und
Diskurs auf Augenhöhe und nach außen das Sich-Einlassen und den Dialog mit der Welt.
Karl Kardinal Lehmann hielt an den Idealen des Konzils ein Leben lang fest und versuchte
fortwährend, die Zeichen der Zeit zu ergründen und „daraus weiterführende Imperative für das Handeln zu gewinnen.“ (Fastenpredigt,
Februar 2013)
Leider musste er
miterleben, wie viele seiner Handlungsimpulse, die aus drängenden pastoralen
und kirchenpolitischen Problemfeldern erwachsen waren, durch den
wiedererstarkten römischen Zentralismus im Keim erstickt oder auf Anordnung von
oben eliminiert wurden. Erfolgreicher war Lehmann bei der Verteidigung
konziliarer Errungenschaften.
Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes) übergab die Verantwortung für die Familienplanung in die Hände der Eheleute. Diese müssen „in menschlicher und christlicher Verantwortlichkeit ihre Aufgabe erfüllen und in einer auf Gott hinhörenden Ehrfurcht durch gemeinsame Überlegung versuchen, sich ein sachgerechtes Urteil zu bilden. … Dieses Urteil müssen im Angesicht Gottes die Eheleute letztlich selbst fällen.“ (GS 50)
Unter Führung von Kardinal Döpfner verteidigten die deutschen Bischöfe 1968 durch die Königsteiner Erklärung dieses konziliare Vermächtnis. Es war dann an Lehmann, sich ab 1987 gegen Zentralisierungsbestrebungen Johannes Pauls II. zu behaupten, was ihm auch gelang. Mit dem nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia von Papst Franziskus ist dann 2016 die deutsche Linie bestätigt worden: „Die klare Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils bleibt bestehen: Beide sollen durch gemeinsame Überlegung versuchen, sich ein sachgerechtes Urteil zu bilden. … Dieses Urteil müssen im Angesicht Gottes die Eheleute letztlich selbst fällen.“ (Al 222)
Neben äußeren Parallelitäten – beide wurden 1936 geboren, beide sind seit 2001 Kardinäle -besteht zwischen Karl Lehmann und Papst Franziskus auch eine große geistig-geistliche Affinität. Als Jorge Mario Bergoglio beim Vorkonklave im März 2013 seine kurze Rede hielt, sprach er von der kranken, um sich selbst kreisenden Kirche, die vom verderbten Geist des theologischen Narzissmus beherrscht ist. Man konnte sich dabei an Aussagen Lehmanns im Jahr zuvor erinnert fühlen:
„Kirche ist immer in Bewegung: Sie kommt vom dreifaltigen Gott her und ist zu den Menschen gesandt. … Sie verfehlt ihre Aufgabe, wenn sie um sich kreist und sich nicht der Not der Welt sowie den Wunden der Zeit zuwendet und die Menschen zu Gott führt.“ (Vortrag, März 2012) und
„Der größte Sündenfall für die Kirche ist die Selbstgenügsamkeit. Wenn wir begreifen, dass das Gesendet-Werden und Über-Sich-Hinausgehen zum Wesen der Kirche gehört, wird die bleibende Neuheit des Christentums auch in Zukunft alle Grenzen durchbrechen. Kirche ist immer im doppelten Sinne über sich hinaus: auf Gott und die Menschen hin.“ (Vortrag, Juni 2012)
Nachdem Papst Franziskus ein halbes Jahr im Amt war, sagte er im Verlauf eines Interviews mit der italienischen Tageszeitung La Repubblika folgendes: „Das Zweite Vatikanische Konzil beschloss, die Zukunft mit einem modernen Geist anzusehen und sich der modernen Kultur zu öffnen. Die Väter des Konzils wussten, dass das Ökumene und Glaubensdialog bedeutete. Seitdem ist in dieser Richtung wenig geschehen. Ich bin so bescheiden und so ehrgeizig, das wieder zu tun.“
Franziskus nimmt den Faden auf, an dem sich Kardinal Lehmann jahrzehntelang orientiert hat. Eine späte Frucht von Lehmanns ökumenischem Engagement würdigt Kardinal Marx in seinem Nachruf: „Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung 1999 geht wesentlich auf das Verhandlungsgeschick Karl Lehmanns zurück.“ Und was den Glaubensdialog mit wiederverheirateten Geschiedenen angeht, so ist – im Anschluss an Amoris laetitia - mit dem Wort der deutschen Bischofskonferenz zur erneuerten Ehe- und Familienpastoral vom Februar 2017 das pastorale Praxis geworden, was Bischof Lehmann 1993 zusammen mit Bischof Kasper und Erzbischof Saier für wiederverheiratet Geschiedene avantgardistisch in Angriff genommen hatten.
Ein Jahr später steht der Kommunionempfang konfessionsverschiedener Ehepartner auf der Tagesordnung. Die überwiegende Mehrheit der Bischofskonferenz ist sich einig, sieben Bischöfe – davon sechs Bayerische – wenden sich an Rom und äußern „Zweifel, ob der Beschluss mit der Glaubenslehre und der Einheit der Kirche vereinbar sei.“ Dieses Muster wäre Karl Lehmann ausgesprochen bekannt vorgekommen. Nur, das kuriale Rom mit Papst Franziskus an der Spitze ist ein anderes, als das, mit dem er sich über viele Jahre hinweg herumschlagen musste.
Im großen Interview von 2016 kommt Lehmann auf die Grundausrichtung zu sprechen, die ihn mit Papst Franziskus verbindet, nämlich eine synodalere Kirche. Welch‘ Genugtuung muss es für den Kardinal gewesen sein, als er aus dem Munde des Pontifex vernimmt, was schon immer sein Anliegen war: „Eine Synode müsse frei sein und dürfe keiner Zensur unterliegen; sonst sei es keine Synode. Auch die Organismen der Teilkirchen, also die Synoden in Ländern und Sprachgemeinschaften, sollten mehr Kompetenz bekommen.“ (Mit langem Atem, S. 120)
Am Tag nach Kardinal Lehmanns Tod schickt Papst Franziskus ein Telegramm an den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, in dem er in sehr treffenden Worten den Verstorbenen würdigt:
„In seinem langjährigen Wirken als Theologe und Bischof wie auch als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz hat Kardinal Lehmann das Leben von Kirche und Gesellschaft mitgeprägt. Stets war es sein Anliegen, offen zu sein für die Fragen und Herausforderungen der Zeit und von der Botschaft Christi her Antwort und Orientierung zu geben, um die Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und über die Grenzen von Konfessionen, Überzeugungen und Ländern hinweg das Verbindende zu suchen.“
Schluss
Nach einem Bibelvers Ausschau haltend, der zu Karl Lehmann passt, fiel mir Matthäus 5.13 ein: „Ihr seid das Salz der Erde.“
Der Professor und Bischof hat sich weder dem gerade vorherrschenden Zeitgeist angepasst, noch ist er in die spirituelle Attitüde des weltabgewandten Glaubenseiferers geflüchtet. Um seiner Mission der dialogischen Konsensfindung nachkommen zu können, brachte er signifikante Voraussetzungen mit. Er war in seinem Glauben und seiner Kirche fest verankert, er war mit seinem weiten Bildungshorizont auf der Höhe der Zeit und er war in der Lage konstruktiv zu streiten – unabhängig davon, ob sein Gegenüber ihm wohlwollend oder feindlich gesinnt war. Wichtig war auch, dass er aufgrund seiner geschulten Intellektualität einfachen Wahrheiten misstraute und über genügend Ambiguitätstoleranz verfügte, um Problemstellungen multiperspektivisch anzugehen. Bereits beim Konzil und stärker noch bei der Würzburger Synode machte er die Erfahrung, dass es sich lohnt, mutig in die offene Debatte zu gehen. „Die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, auch wenn man sehr unterschiedliche Positionen vertritt, und bei aller Unterschiedlichkeit doch in Dialog und Disput einzutreten, kann Wunder wirken …Das ist ein Lehrstück gewesen: man kann auch mit Leuten zurechtkommen, bei denen man es vorher nicht vermutet hat.“ (Mit langem Atem, S. 24)
„Auf die Frage, was einen guten Bischof ausmache, betonte Lehmann, der Oberhirte müsse Gesprächspartner auch für die nicht-kirchliche Umgebung sein, für Wirtschaft und Politik, Kultur und Wissenschaft: ‚Innerkirchlich wird oft unterschätzt, wie sehr man für Kirche außerhalb der Kirche da sein muss. Wir brauchen den Mut zum Dialog‘“ (Nellessen, Nachruf 2018)
Lehmann war sich nicht zu schade, die Durststrecken und Glanzlosigkeiten zeitgenössischen Christ- und Kircheseins (vgl. Ruh 2018) bewusst anzunehmen und er hatte den langen Atem und die Zuversicht, die man braucht, um sich unermüdlich für die gute Sache zu engagieren. Das Wort Zuversicht benannte er einmal der Duden-Reaktion gegenüber als sein Lieblingswort.
„Die Zuversicht ist Sache aller Christen. Wir fliegen dabei nicht leichtfüßig und illusionär über die oft harte und brutale Wirklichkeit unserer Welt hinweg, und diese Hoffnung wird häufig auch durch uns selbst, durch unsere Furcht, unsere Zweifel und unseren Kleinglauben verdeckt. Liebe Schwestern und Brüder, dies ist auch das Bekenntnis meines Lebens." (Predigt im Pontifikalgottesdienst am 16. Mai 2006 zum 70. Geburtstag)
Sein Gottvertrauen bewahrte ihn vor der menschlichen Hybris, alles selbst bewerkstelligen zu müssen. Bei den langen Wegen, die Lehmann gegangen ist, und deren Zielpunkte er nicht mehr miterlebt hat, tröstete ihn eine Geschichte aus dem Alten Testament (5 Mose 32.52). „Mose steht am Rand des Gelobten Landes, schaut hinein, und Gott sagt zu ihm: Du gehst jetzt hier nicht mehr hinein, du kannst jetzt hier noch hinein sehen, aber du wirst es nicht mehr betreten. Das ist für mich ein Modell, man ist eine gewisse Wegstrecke gegangen, sieht von ferne, wie es einmal werden könnte, kann das aber nicht mehr betreten.“ (SWR 2 Glauben: Karl der große Brückenbauer. 28.09.2008)
Als Philipp Gessler vor zwei Jahren Karl Kardinal Lehmann fragte, in welcher Haltung er auf den Tod zugehen würde, verwies er auf seinen Namenspatron und Amtspatron, den Heiligen Karl Borromäus (1538 - 1584). Vor die Situation gestellt, dass er nur noch einen Tag, eine Stunde zu leben hätte, gab dieser zur Antwort: „Ich würde das, was ich mache, so gut machen, wie ich kann.“
So war Karl Lehmann: Er wich keiner Herausforderung aus, schonte sich nicht und machte alles so gut, wie er nur konnte.
Quellen
Lehmann der Gerufene
Als der Freiburger Erzbischof Eugen Seiterich ihm nach einem Jahr Studium anbot, seine Ausbildung in Rom fortzusetzen, lag es ihm fern, an eine innerkirchliche Karriere zu denken. Das Studium in Freiburg entsprach eigentlich genau seinen Vorstellungen, und so war der ausschlaggebende Grund für den Wechsel an die Päpstliche Universität Gregoriana, dass er als Stipendiat seine Eltern finanziell entlasten konnte.
1959 schlugen seine Philosophieprofessoren ihn für eine Dissertation vor, was gar nicht im Sinne des Germanikers war, da es ihn in die Seelsorge zog. Er promovierte dann auf Anordnung des Freiburger Erzbischofs Schäufele.
Die Zusammenarbeit mit Karl Rahner von 1962 bis 67 ergab sich daraus, dass Rahner sehr schnell erkannte, wie vielfältig Lehmann einsetzbar und wie belastbar er war.
Lehmann war noch in der Planungsphase für seine Habilitation, in der er dem „verborgenen Gott“ nachspüren wollte, als ihm 1968 bereits der Lehrstuhl für Dogmatik und Theologische Propädeutik in Mainz angeboten wurde. Möglich war dies, weil Joseph Ratzinger und Karl Rahner Gutachten lieferten. Bereits 1971 konnte es sich der junge Professor aussuchen, ob er in Mainz bleibt oder nach Münster oder Freiburg wechselt. Ausschlaggebend für seine Entscheidung für Freiburg waren Bindungen zu seiner Heimatdiözese und ein für Lehmann erfreuliches Ergebnis bei den Berufungsverhandlungen: Die Einrichtung eines kleineren Ökumenischen Instituts. Das führte dann zu einer Erweiterung des Lehrstuhls für Dogmatik um das Gebiet Ökumenische Theologie.
Ab 1969 zog der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Döpfner, den Mainzer Professor immer stärker für verschiedene Aufgaben heran. Lehmann sollte die Würzburger Synode (1971 -75) konzipieren und wurde Berater der Glaubenskommision der Deutschen Bischofskonferenz.
Seit 1983 gab es ein neues Kirchenrecht, und das sah eine Stellvertretung für den Vorsitzenden der Ortsbischöfe vor. Das Gremium stellte 1985 dem 77 Jahre alten Kölner Erzbischof Joseph Höffner, den mit 49 Jahren jüngsten Ortsbischof Karl Lehmann zur Seite. Zwei Jahre später ist das Amt des Vorsitzenden neu zu besetzen, das nach traditioneller Gepflogenheit auf den Erzbischof von München und Freising, Kardinal Wetter, zugekommen wäre. Doch die Konferenz ist anderen Sinns und ruft den Bischof von Mainz an die Spitze.
Lehmann der geduldig Ungeduldige
Lehmann war Realitäts- und Menschennah und wusste aus direkten Gesprächen, wo die Gläubigen der Schuh drückte. Für ihn war selbstverständlich, dass die Gesetze für den Menschen und nicht der Mensch für das Gesetz da zu sein hatte. Gemäß dieser Maxime war die kirchliche Lehre stets am gelebten Leben zu messen. (Vgl. ÖAK, Nachruf 2018)
Als Seelsorger, als der sich Lehmann immer verstand, nahm er wahr, wenn bestimmte Anliegen in der Amtskirche keinen Widerhall fanden und pastorale Probleme ungelöst blieben. Als Theologe von Rang wusste er die katholische Lehre auszudeuten und Möglichkeitsräume aufzuspüren. Als Kirchenpolitiker war ihm bekannt, wie Problemlösungen auf den Weg zu bringen waren.
In der Würzburger Synode kämpfte er für die Laienpredigt und den Diakonat der Frau. 1987 verteidigte er die Königsteiner Erklärung, und 1994 macht er sich mit zwei Bischofskollegen daran, für die Nöte von wiederverheiratet Geschiedenen Lösungen anzubieten. Im ökumenischen Bereich räumt er in theologischer Kleinarbeit trennende Hindernisse zur Seite und bei der gesetzlichen Neuregelung der Abtreibungsproblematik stellt er sich an die Seite der Frauen und engagiert sich für den Schutz des ungeborenen Lebens. Noch nicht erwähnt habe ich den Zölibat, die „viri probati“ und weitere Themen.
Was hat der Bischof von Mainz erreicht? Andreas Öhler (2016) fasst dessen Bemühungen in ein drastisches Bild: „Kardinal Lehmann war der Sisyphos unter den deutschen Bischöfen. Unermüdlich rollte er seinen ihm zugelosten Stein den Felsen Petri hinauf.“
Was an dem Bild stimmt, ist, dass Karl Lehmann beharrlich die Aufgaben anpackte, die aus seiner Sicht dran waren und sich dabei von möglichen Misserfolgen nicht abhängig machte. Was das Bild nicht vermittelt, ist, dass sein Tun nicht vergeblich war. Lehmann war ein Hoffnungsträger, der vielen Gläubigen vorlebte, dass Katholizität auch etwas anderes bedeuten kann als blinder Gehorsam und reine Lehre. (vgl. Florin 2018) Und er zeigte auf, worauf es ankommt, nämlich mit sich selbst und Gott im Reinen zu sein, auch wenn man zwischen allen Stühlen sitzt und von Schlägen aus verschiedenen Richtungen getroffen wird. Lehmann hat sich immer als Diener im Auftrag des Herrn verstanden, der die Seinen nicht im Stich lässt und alles zu einem guten Ende führen wird. Dass der Kardinal 2013 daran mitwirken konnte, dass ein neuer Papst „vom anderen Ende der Welt“ auftaucht, der dann seine Agenda fortführt, damit war gleichwohl nicht zu rechnen.
Die Institution Lehmann
Bei seiner Homage zu Lehmanns 70. Geburtstag bezeichnete Kardinal Walter Kasper den Jubilar treffend als „Institution“. Für diesen Ehrentitel würde allein sein Wirkungszeitraum von 33 Jahren als Diözesanbischof und 21 Jahren als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz hinreichen. Zum Ausdruck kommt damit aber vor allem die einzigartige Qualität und Quasi-Unersetzbarkeit des Mainzers, der sich unerschrocken innerkatholischen, interkonfessionellen oder gesellschaftlichen Konfliktfeldern zuwandte und mit seiner Kompetenz, Beharrlichkeit und Dialogfähigkeit an vielen zukunftsweisenden Entwicklungen und Lösungen großen Anteil hatte.
Seine nicht wenigen Gegner sahen das anders, gaben ihm aber die Ehre mit der abschätzig gemeinten Wortschöpfung „Lehmann-Kirche“. Der Begriff kam auf, als der Vorsitzende der deutschen Ortsbischöfe Ende der 90er Jahre für die weitere Mitwirkung von katholischen Schwangerenberatungsstellen innerhalb des staatlichen Systems kämpfte. Seine Kritiker unterstellten im Verbandelung mit der Politik, Verweltlichung und Verdunkelung des kirchlichen Zeugnisses. Seine differenzierten Stellungnahmen wurden ihm als laxes Ausweichen vor Eindeutigkeit und klarem Urteil ausgelegt.
Letztlich wurde Lehmann stellvertretend für alle die Katholiken angegriffen, die Probleme mit einer zentralistischen und autokratischen Kirche hatten, die die Diskussion von Reformanliegen per Dekret von oben unterband. Wer sich je mit dem Bischof von Mainz beschäftigt hat, kann ihm seine Spiritualität, seine Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen und seine Bereitschaft, mit langem Atem nach Lösungen zu suchen nicht absprechen.
Welch respektable Verdienste sich Kardinal Lehmann erworben hat, hat Kardinal Walter Kasper in der schon erwähnten Rede ausbuchstabiert:
„Kardinal Lehmann hat seine Stimme erhoben für das Leben, das geborene wie das ungeborene, für die Würde der Kranken, der Behinderten, der Sterbenden und das Recht auf den natürlichen Tod. Er hat sich eingesetzt für Ehe und Familie, für die Frauen, für soziale Gerechtigkeit, für Frieden, für Toleranz und gegenseitigen Respekt zwischen den Religionen; immer hat er zu Verständigung und Versöhnung aufgerufen. Auch an komplizierte Themen wie die der Bioethik wagte er sich heran und das mit erstaunlicher Sachkenntnis. Immer hat er klar, aber auch verbindlich gesprochen. So ist Kardinal Lehmann auch in seinen öffentlichen Stellungnahmen ein Mann des Dialogs geblieben und damit geradezu zu einer öffentlichen Institution geworden.“
Von Nikolaus von Kues stammt ein Satz, der dem Phänomen Lehmann durchaus angemessen ist: „Die Größe eines Menschen zeigt sich darin, wie viele Gegensätze er in sich vereinigt.“
Karl Lehmann der Überbrücker
Im Jahr 2013 gab
Kardinal Lehmann bei einer Dankesrede preis, welche Erwägungen in
umtrieben,
bevor er im Juni 1983 sein Ja-Wort zur Übernahme des Bischofsamtes in Mainz
gab.
„Die Aufgabe, Brücken zu
bauen, wo keine Pfeiler mehr erkennbar waren, war eine Aufgabe, die nach meiner
Überzeugung den Theologen und das bischöfliche Amt forderte, brauchte und
stützte – und zwar auch in derselben Person.“
Im
Bild der eingestürzten Brücke könnte zweierlei zum Ausdruck kommen. Zum einen
war es in der nachkonziliaren Zeit zu einer zunehmenden Entfremdung von akademischer
Theologie und oberstem kirchlichem Lehramt gekommen, zum anderen war 1981 das nachsynodale
Schreiben Familiaris consortio von Johannes
Paul II. erschienen. Darin bekräftigt der Papst die Aussagen von Humanae vitae von 1968 zur
Empfängnisregelung – die geschlechtliche Vereinigung wird „durch die Empfängnisverhütung zu einer objektiv widersprüchlichen Gebärde“ (FC 32) – und er „verbietet es jedem Geistlichen, aus welchem Grund oder Vorwand auch immer, sei er auch pastoraler Natur, für Geschiedene, die sich wiederverheiraten, irgendwelche liturgischen Handlungen vorzunehmen.“ (FC 84)
Die Empfängnisverhütung betreffend, waren die deutschen Ortsbischöfe unter Führung von Kardinal Julius Döpfner mit der Königsteiner Erklärung vom August 1968 einen von der römischen Linie abweichenden Weg gegangen, um eine Spaltung des deutschen Kirchenvolks zu verhindern, und zur Pastoral wiederverheiratet Geschiedener hatte sich Lehmann bereits 1972 geäußert. „Jeder Seelsorger und viele Katholiken kennen das dornenreiche Problem: Gegenüber wiederverheiratet Geschiedenen gelangt die pastorale Sorge rasch in eine fast unausweichliche Sackgasse.“ (Unauflöslichkeit der Ehe und Pastoral für wiederverheiratete Geschiedene)
Wer bei dem Vorhaben Brückenbauen ohne manifeste Pfeiler denkt, hier leide jemand an Selbstüberschätzung, kennt Karl Lehmann nicht. Der Hohenzoller hat immer wieder Problemstellungen, die nach einer Lösung verlangten, unerschrocken angepackt und dabei nicht nach den Erfolgsaussichten gefragt, sondern auf seine intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten vertraut und seine Hartnäckigkeit und seine auf Gottvertrauen beruhende Zuversicht in die Waagschale geworfen.
Als jemand, der sich das Generalthema des Konzils „Ecclesia ad intra et ad extra“ (Blick auf das Wesen der Kirche nach innen und auf ihre Stellung und Sendung nach außen) zu eigen gemacht hatte, sah sich Lehmann als Mann des Dialoges in alle Richtungen gefordert. Nach innen ging es darum, eine Kompromisslinie zwischen vorwärtsdrängenden Erneuerern und restaurativen Kräften zu finden und nach außen galt es, in den Diskurs mit Gesellschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft einzutreten. Ein Hauptanliegen, dem sich Lehmann über Jahrzehnte verschrieb, war der ökumenische Dialog.
Das Ringen um Konsense kannte Lehmann aus der Zeit der Würzburger Synode (1971-75), die sich zur Aufgabe gestellt hatte, das II. Vatikanum in die deutschen Verhältnisse hinein zu konkretisieren. Lehmann wirkte als gewählter Vertreter des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) schon bei der Vorbereitung mit, war während der Synode inhaltlich bei dem Thema Laienpredigt in der Messe federführend und entwickelte sich mehr und mehr zur rechten Hand des Präsidenten dieser innovativen Kirchenversammlung, Julius Kardinal Döpfner. Bei Themenstellungen mit nationaler Zuständigkeit brachte die Synode einiges voran, wohingegen Themen, die nur in Form eines Votums an den Heiligen Stuhl eingebracht werden konnten – wie Laienpredigt und Diakonat der Frau - stecken blieben. Das wichtigste Gremium, das aus der Synode hervorging, war die Gemeinsame Konferenz – 10 Bischöfe und 10 Vertreter des Zentralkomitees der deutschen Katholiken trafen sich zwei Mal im Jahr. Lehmann war hier 40 Jahre Mitglied und wirkte brückenbildend zwischen katholischen Laien und kirchlichen Amtsträgern.
Als Ende 1988 Papst Johannes Paul II. gegen das Metropolitan-Kapitel Kölns den Berliner Kardinal Meisner auf den erzbischöflichen Stuhl gehievt hatte, verfassten Theologieprofessoren ein Memorandum – Kölner Erklärung -, mit dem sie gegen die Überdehnung römischer Machtausübung protestierten und das weltweit von über 700 Theologinnen und Theologen unterzeichnet wurde. Lehmann machte aus der Not eine Tugend und überbrückte die Kluft zwischen akademischer Theologie und dem kirchlichen Lehramt, indem er die Mainzer Gespräche einrichtete. Das von ihm bis ins Jahr 2018 geleitete Forum fand regelmäßig halbjährlich statt.
Mit dem Fall der Mauer 1989 war Lehmann der richtige Mann an der richtigen Stelle, denn es ging darum, die katholischen Kirchen von Ost- und Westdeutschland zusammenzuführen. Er war vor Ort sehr präsent, an erster Stelle, um zuzuhören und zu lernen; Besser-Wessi-Attituden lagen ihm fern. Die anstehenden Entwicklungen begleitete er sachbezogen und umsichtig abwägend.
Lehmanns Engagement für die Ökumene begann bereits 1969, als er als junger Dogmatik-Professor in Mainz in den seit 1946 bestehenden Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen (ÖAK) berufen wurde. Motiviert war er weniger aus theologischem Interesse, sondern weil er die Nöte der von Mischehen – so die damalige Bezeichnung – Betroffenen wahrnahm. In seiner Dankesrede 2013, gab er über die Richtschur seines ökumenischen Wirkens Auskunft. „Vorurteile abbauen, wo es nur möglich ist; den Reichtum anderer anerkennen; das Verständnis eigener Überzeugungen fördern; praktische Zusammenarbeit erweitern.“ Insbesondere in den 80er Jahren erwarb sich Lehmann Verdienste, als die Aufarbeitung der wechselseitigen Lehrverurteilungen der Konfessionen in Angriff genommen wurde. Von dem 1986 vorgelegten 200-Seiten-Papier Lehrverurteilungen - kirchentrennend machte der Rechtfertigungsteil Karriere, indem er 1999 zum Augsburger Beschluss wurde. Die Themenbereiche Eucharistie und Amt blieben allerdings außen vor. Lehmanns Resümee 2016 („Mit langem Atem“) fällt eher ernüchternd aus: „Was die Theologie erarbeitet hat, muss ja, wenn es fruchtbar werden soll, auch vom verantwortlichen Amt in der Kirche aufgenommen werden … Da ist aber theologisch viel vorgearbeitet worden, was nachher einfach brach liegen blieb.“ Umso größer war die Freude des Ökumenikers, als er im gleichen Jahr als erster und einziger Katholik in Anerkennung seiner Verdienste die höchste Auszeichnung, die die evangelische Kirche zu vergeben hat, entgegennahm, die Martin-Luther-Medaille.
Lehmann als Prellbock zwischen der katholischen Kirche in Deutschland und Rom
Eine erste Friktion zwischen Karl Lehmann und Rom gab es
bereits im Jahr 1977. Der Freiburger Erzbischof Hermann Schäufele war im Juli
gestorben und das Domkapitel, angeführt von Generalvikar Robert Schlund, sah in
dem 41-jährigen Karl Lehmann den allseits erwünschten Kandidaten für das frei
gewordene Amt. Schlund kannte Lehmann aus den Jahren 1956/57, als dieser
Student und er Direktor des Theologenkonvikts Borromäum in Freiburg war.
Lehmanns Name war einer von Dreien, die auf einer Liste standen, die nach Rom
zu schicken war. Als die römische Terna zurückkehrt, ist der Name Lehmann
gestrichen. Anschließende Recherchen ergaben, dass weder beim apostolischen Nuntius
noch im vatikanischen Staatssekretariat – Lehmann wurde am 26.03.1979 Päpstlicher Ehrenprälat - etwas gegen Karl
Lehmann vorlag. Lehmanns Biograph deutet an, dass es an der Freiburger
theologischen Fakultät Gegner des Dogmatik-Professors gab, die sich diskret bei
den entsprechenden Hierarchen in Rom gemeldet hätten. Nach meiner Einschätzung
reichte Lehmanns dezidiertes Engagement für unerwünschte Neuerungen in der
Kirche – während der Würzburger Synode (1971–75) – völlig aus, um ihn am Tiber
zur Persona non grata werden zu lassen.
Dass Lehmann am 5. Juni 1983 das Amt des Bischofs von Mainz angetragen wurde, ist darauf zurückzuführen, dass der bisherige Amtsinhaber, Kardinal Hermann Volk, sich in Rom für den gewünschten Nachfolger stark machte. Johannes Paul II. war – bevor er Papst wurde - dreimal in Mainz, und in dieser Zeit war zwischen Kardinal Volk und dem Krakauer Kardinal Wojtyla eine Freundschaft entstanden.
Dem Auserkorenen fiel es alles andere als leicht, sein Professoren-Dasein in Freiburg und seine akademischen Zukunftspläne aufzugeben. Aber sein Versprechen – „adsum“ („ich bin bereit“) - bei der Priesterweihe, sich der Kirche zur Verfügung zu stellen, wog für ihn schwerer als seine persönlichen Präferenzen. Ein mit ausschlaggebender Gesichtspunkt für seine Entscheidung, sich in die Pflicht nehmen zu lassen, war folgender:
„Die Stunde der Kirche brauchte Bischöfe, die vom Konzil überzeugt und in der Lage waren, sich in die unvermeidlichen Auseinandersetzungen zu stellen. Darin hatte ich Erfahrung.“ (Lehmann, Dankesrede 2013)
Lehmann war aufgrund seiner Synodenerfahrung und seines engen Kontaktes zu Kardinal Döpfner – den er als väterlichen Freund bezeichnete und dessen Konzilsring er von seiner Bischofsweihe an trug - sehr bewusst, dass der Kampf mit Rom weiterhin auf der Tagesordnung stand.
„Spannungen zwischen Rom und Deutschland haben Tradition. Schon beim Ersten Vatikanischen Konzil 1870 waren die deutschen Bischöfe gegen die Unfehlbarkeit des Papstes. Gut ein Jahrhundert später standen die Beziehungen wieder unter Hochspannung.“ (Florin, Nachruf 2018)
Am 25. Juli 1968 – der gleiche Tag, an dem Lehmann als Ordinarius an die Johannes
Gutenberg-Universität in Mainz berufen wurde – wurde die Enzyklika Humanae vitae Pauls VI. veröffentlicht. „Die Antwort der Enzyklika schlug in Deutschland ein wie eine Bombe, denn die Erwartung war in eine ganz andere Richtung gegangen.“ (Karl Kardinal Lehmann 1993; 2006, S. 176) Die seelsorgliche Praxis in Deutschland hatte „die Wahl der Methoden verantwortlicher Elternschaft weitgehend dem Gewissensurteil der Eheleute überlassen.“
Mit Humanae vitae verbot Papst Paul VI. kraft authentischer Lehrentscheidung Eheleuten den Gebrauch von „künstlichen“ Empfängnisverhütungsmitteln. Der gesellschaftliche Protest der 68er gegen überkommene Autoritäten fand jetzt seinen Angriffspunkt in der katholischen Kirche. Der deutsche Episkopat reagierte rasch auf die brisante Lage und formulierte am 30.08.1968 in der sogenannten Königsteiner Erklärung:
„Wer glaubt, … von einer nicht unfehlbaren Lehre des kirchlichen Amtes abweichen zu dürfen …, muss sich nüchtern und selbstkritisch in seinem Gewissen fragen, ob er dies vor Gott verantworten kann.“
Für Rom war dies ein Affront, der ein fast ein halbes Jahrhundert währendes Spannungsverhältnis zwischen dem Vatikan und der deutschen katholischen Kirche einläutete.
Als der Bischof von Mainz am 22.09.1987 im Alter von 51 Jahren zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gewählt wurde, trat er bewusst in die Fußstapfen des von ihm verehrten Kardinals Julius Döpfner und hielt das Vermächtnis seines Vorvorgängers hoch. Papst Johannes II. verlangte bereits beim Antrittsbesuch des neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz am 4. Dezember 1987 nachdrücklich, die Königsteiner Erklärung zurückzunehmen. Lehmann blieb standhaft und sagte dem Papst für 1993 – dem 25. Jahrestag - ein Grundlagenpapier zum Verhältnis von Humanae vitae und Königsteiner Erklärung zu, woran er sich auch hielt. (Veröffentlicht in: Zuversicht aus dem Glauben, 2006, S. 175–200)
Mit der Übernahme des Amtes des Vorsitzenden der deutschen Ortsbischöfe hatte Lehmann in mehrerlei Hinsicht eine Prellbockfunktion. Er hatte die Aufgabe, Reformen fordernde und traditionsverhaftete Gläubige in deutschen Landen nicht auseinanderdriften zu lassen, er hatte sich in der Bischofskonferenz mit Antipoden herumzuschlagen, die einen engen Draht nach Rom hatten – genannt seien die Namen Joachim Meisner und Johannes Dyba –, und er hatte sich über einen langen Zeitraum hinweg mit der auf einer gemeinsamen Linie agierenden Doppelspitze der Katholischen Kirche - Papst Johannes Paul II. und dem Präfekten der Glaubenskongregation, Josef Kardinal Ratzinger, - auseinanderzusetzen.
Lehmann hatte viel Geduld mit seiner Kirche. Aber wenn er auf pastorale Probleme stieß, wo es aus seiner Sicht nur wegen der Unbeweglichkeit der Amtskirche nicht voranging, dann war er bereit zu kämpfen und sich gegen den innerkirchlichen Mainstream zu stellen. Als sich die Deutsche Bischofskonferenz in der Frage der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion nicht auf ein Votum an Rom einigen konnte, tat er sich mit seinen beiden Bischofskollegen der Oberrheinischen Provinz – Oskar Saier und Walter Kasper – zusammen, und sie veröffentlichten 1993 ein Hirtenwort, in dem Grundsätze für eine seelsorgliche Begleitung von Menschen aus gescheiterten Ehen entwickelt wurden. Sie argumentierten, dass man die Einzelfälle prüfen müsse und man keinen Alles-oder-nichts-Standpunkt vertreten dürfte. Kardinal Ratzinger stoppte als Präfekt der römischen Glaubenskongregation die Initiative abrupt. Ihm war dabei ebenso wie den oberrheinischen Bischöfen bekannt, dass ein liberaler seelsorgerlicher Umgang mit den schicksalhaft getroffenen Gläubigen längst gemeindlicher Alltag war.
Der heftigste und schwerwiegendste Konflikt mit dem Vatikan, den Karl Lehmann als Vorsitzender der deutschen Ortsbischöfe auszutragen hatte, war der Streit über die Schwangerenkonfliktberatung. Zur Wendezeit 1989 trafen mit der Fristenregelung der DDR und der Indikationsregelung der BRD unterschiedliche Rechtsnormen aufeinander. Bei der emotional aufgeladenen gesellschaftlichen Debatte um eine Neuregelung der Abtreibungsfrage sahen auf der einen Seite „liberale Kräfte nun die Chance, eine Regelung nach dem Vorbild der DDR in ganz Deutschland durchzusetzen. Auf der anderen Seite gab es in der katholischen Kirche Kräfte, die auf eine restriktivere Regelung hofften. Die große Nähe, auch die personelle Verknüpfung zwischen CDU und katholischer Kirche machten den Konflikt brisant. Es waren Helmut Kohl und Karl Lehmann, die sich einen Kompromiss ausdachten bzw. sich zu eigen machten: Er sah vor, dass Abtreibung verboten ist, aber unter bestimmten Umständen straffrei bleibt.“ (Resing, Nachruf 2018)
Lehmann ging der Abtreibungsproblematik in seinem Eröffnungsreferat - Beratung zwischen Lebensschutz und Abtreibung - bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischöfe 1992 in Fulda auf den Grund. Sein Fazit lautete, dass es der Kirche nicht erlaubt ist, „sich vorschnell aus komplexen und schwierigen Situationen unserer Gesellschaft zurückzuziehen. Auch ein Rückzug in eine vermeintlich eindeutigere und heile Welt kann schuldig machen. Wer gibt zum Beispiel die Ermächtigung, auf die Rettung vieler ungeborener Kinder und die Ermutigung vieler schwangerer Frauen zu verzichten, indem man seinen Auftrag nicht mehr in dem gesetzlichen Beratungssystem erfüllt?“ (Lehmann 2006, S. 169)
Am 29. Juni 1995 beschließt der Bundestag eine Neuregelung des Paragraphen 218. Abtreibungen bleiben straffrei, wenn eine betroffene Frau die Teilnahme an einer Konfliktberatung (Beratungsschein) nachweist und eine 12-Wochen-Frist einhält. Die Bischöfe kritisieren auf ihrer Herbstvollversammlung das neue Gesetz als "lückenhaft und mehrdeutig", beschließen aber, es den Beratungsstellen vorläufig nicht zu untersagen, Beratungsbescheinigungen auszustellen.
In den folgenden Jahren kommt es zu einem Tauziehen zwischen Rom und der deutschen Bischofskonferenz. Karl Lehmann muss sich nicht nur mit dem Vatikan, sondern auch mit Erzbischof Dyba und später Kardinal Meisner auseinandersetzen, die aus der Phalanx der
deutschen Bischöfe ausscheren.
Am 18.09.1999 wird auf Anweisung des Papstes im Vatikan ein Brief erstellt, in dem es unmissverständlich heißt: „Würde der Schein weiterhin als Zugang zur Abtreibung dienen, wäre der ... Vorwurf berechtigt, dass die Kirche eine bloß theoretische Aussage ohne reale Konsequenzen macht. Dem Heiligen Vater liegt es außerordentlich am Herzen, dass die Kirche ... alles meidet, was als Doppeldeutigkeit oder Mangel an Klarheit interpretiert
werden könnte."
Obwohl damit der Zwangsausstieg aus der gesetzlichen Konfliktberatung besiegelt ist, wenden sich Anfang Oktober zwölf deutsche Bischöfe in einem gemeinsamen Brief an Papst Johannes Paul II. und ersuchen ihn um Antwort auf die Frage, wer die Verantwortung dafür übernehmen solle, dass die katholische Kirche nach einem Ausstieg das ungeborene Leben nicht mehr so wirksam schützen könne wie bisher. Im Erwiderungsschreiben von Kardinalstaatssekretär Sodano bekräftigt dieser die bindende Wirkung der Weisung vom September und erklärt die Gewissensnot der Bischöfe für unmaßgeblich.
Während seines Ad-limina-Besuches am 18. November übergibt Bischof Lehmann in einem allerletzten Versuch dem Papst einen Brief, in dem er verzweifelt anfragt, ob es wirklich nicht möglich ist, „wenigstens ‚ad experimentum‘ für einige Jahre eine Pluralität von Beratungsweisen zu erlauben …, bis manche Probleme auch staatlicherseits besser gelöst sind und ein einheitliches Vorgehen auch kirchlicherseits wieder erreichbar ist.“ (Deckers, S. 338) Die Antwort des Papstes trifft am 20. November per Fax ein: „… ich es in einem hohen Maß für schädlich halte, in einer so kennzeichnenden Angelegenheit zwei verschiedene Vorgehensweisen innerhalb desselben Episkopats zu akzeptieren.“
„Vier Jahre lang bot Lehmann Papst Johannes Paul II. die Stirn, versuchte zu vermitteln zwischen deutscher Politik und vatikanischer Moral. Weil der Papst allerdings am Ausstieg festhielt, hätte weiterer Widerstand für Lehmann wohl den Rückzug vom Bischofsamt bedeutet. ‚Wir haben so lange gekämpft. Wir haben verloren‘, konstatierte er enttäuscht und sagte in seiner schwärzesten Stunde: ‚Jetzt müssen wir aber in die Zukunft hin das Beste machen, sonst hängt man immer an den alten Auseinandersetzungen, die nichts mehr bringen.‘ Ein anderer hätte auf eine solche Niederlage wohl mit Verbitterung, Resignation oder Zynismus reagiert. Lehmann dagegen gründete im Januar 2001 in seinem Bistum das ‚Netzwerk Leben‘ für Frauen in Notsituationen.“ (Vera Schmidberger, SWR AKTUELL, 11.03.2018)
Jahrelang hatte Rom den Bischof von Mainz bei Kardinalskreierungen nicht berücksichtigt. Am 21. Januar 2001 ernennt Johannes Paul II. 37 neue Kardinäle - so viele auf einmal, wie das noch bei keinem Papst vor ihm der Fall war. Der seit über 13 Jahren Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz ist nicht darunter. Daraufhin wurden „Geistliche und Laien, In- und Ausländer … in Rom vorstellig“ (Hans Maier, Laudatio 2013) – einer davon war der Bischof der Diözese Opole (Oppeln), Alfons Nossol, - und die römische Vernunft setzte sich doch noch durch. Am 26. Januar erfährt Lehmann von der Apostolischen Nuntiatur in Bonn, dass er nachnominiert ist. Endlich kam Kardinal Lehmann dort an, wo er hingehörte. Er war nach dem heilig gesprochenen Kardinal Carlo Borromeo getauft, vollendete seine 8-jährige wissenschaftliche Ausbildung in Rom mit zwei Doktortiteln und hatte seit jeher eine Affinität zu dem römischen Sinn für Ordnung und Eintracht.
Es ist für Karl Lehmann bezeichnend, dass er, - der sich bereits 1987 gezwungen sah, in fundamentale Auseinandersetzungen mit Rom einzutreten - seinen mächtigeren Gegenspielern Josef Ratzinger und Johannes Paul II. nach seiner Kardinalserhebung versöhnlich entgegentrat: „Als ich zum Kardinal ernannt wurde, war es für mich das allerwichtigste, dass Johannes Paul II. über den Schatten des Streits um die Schwangerenkonfliktberatung gesprungen ist. Er hat es mir nicht übel genommen, dass ich in aller Hartnäckigkeit vier, fünf Jahre eine andere Position als er vertreten habe.“ (Nichtweiß, Hrsg.: Gott ist größer als unser Herz, 2006)
Als wichtiger Zeitzeuge wurde Karl Kardinal Lehmann häufig im Laufe seines Lebens auf das II. Vatikanum angesprochen. Johannes XXIII. erlebte er als „eindrucksvolle Figur“, die den Mut hatte, den Konzilsprozess als eine „Erneuerung der Kirche im Lichte der ‚Zeichen der Zeit‘“ (Lehmann, Dankesrede 2013) voranzutreiben, auch wenn er dabei institutionelle Einsamkeit erlebte.
Die von Johannes XXIII. in Gang gesetzte Aufbruchsdynamik drängte den überzogenen Zentralismus der Kurie zurück und eröffnete nach innen Räume für synodalen Austausch und Diskurs auf Augenhöhe und nach außen das Sich-Einlassen und den Dialog mit der Welt. Karl Kardinal Lehmann hielt an den Idealen des Konzils ein Leben lang fest und versuchte fortwährend, die Zeichen der Zeit zu ergründen und „daraus weiterführende Imperative für das Handeln zu gewinnen.“ (Fastenpredigt, Februar 2013)
Quellen
„Wer glaubt, … von einer nicht unfehlbaren Lehre des kirchlichen Amtes abweichen zu dürfen …, muss sich nüchtern und selbstkritisch in seinem Gewissen fragen, ob er dies vor Gott verantworten kann.“
Für Rom war dies ein Affront, der ein fast ein halbes Jahrhundert währendes Spannungsverhältnis zwischen dem Vatikan und der deutschen katholischen Kirche einläutete.
Als der Bischof von Mainz am 22.09.1987 im Alter von 51 Jahren zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gewählt wurde, trat er bewusst in die Fußstapfen des von ihm verehrten Kardinals Julius Döpfner und hielt das Vermächtnis seines Vorvorgängers hoch. Papst Johannes II. verlangte bereits beim Antrittsbesuch des neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz am 4. Dezember 1987 nachdrücklich, die Königsteiner Erklärung zurückzunehmen. Lehmann blieb standhaft und sagte dem Papst für 1993 – dem 25. Jahrestag - ein Grundlagenpapier zum Verhältnis von Humanae vitae und Königsteiner Erklärung zu, woran er sich auch hielt. (Veröffentlicht in: Zuversicht aus dem Glauben, 2006, S. 175–200)
Mit der Übernahme des Amtes des Vorsitzenden der deutschen Ortsbischöfe hatte Lehmann in mehrerlei Hinsicht eine Prellbockfunktion. Er hatte die Aufgabe, Reformen fordernde und traditionsverhaftete Gläubige in deutschen Landen nicht auseinanderdriften zu lassen, er hatte sich in der Bischofskonferenz mit Antipoden herumzuschlagen, die einen engen Draht nach Rom hatten – genannt seien die Namen Joachim Meisner und Johannes Dyba –, und er hatte sich über einen langen Zeitraum hinweg mit der auf einer gemeinsamen Linie agierenden Doppelspitze der Katholischen Kirche - Papst Johannes Paul II. und dem Präfekten der Glaubenskongregation, Josef Kardinal Ratzinger, - auseinanderzusetzen.
Lehmann hatte viel Geduld mit seiner Kirche. Aber wenn er auf pastorale Probleme stieß, wo es aus seiner Sicht nur wegen der Unbeweglichkeit der Amtskirche nicht voranging, dann war er bereit zu kämpfen und sich gegen den innerkirchlichen Mainstream zu stellen. Als sich die Deutsche Bischofskonferenz in der Frage der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion nicht auf ein Votum an Rom einigen konnte, tat er sich mit seinen beiden Bischofskollegen der Oberrheinischen Provinz – Oskar Saier und Walter Kasper – zusammen, und sie veröffentlichten 1993 ein Hirtenwort, in dem Grundsätze für eine seelsorgliche Begleitung von Menschen aus gescheiterten Ehen entwickelt wurden. Sie argumentierten, dass man die Einzelfälle prüfen müsse und man keinen Alles-oder-nichts-Standpunkt vertreten dürfte. Kardinal Ratzinger stoppte als Präfekt der römischen Glaubenskongregation die Initiative abrupt. Ihm war dabei ebenso wie den oberrheinischen Bischöfen bekannt, dass ein liberaler seelsorgerlicher Umgang mit den schicksalhaft getroffenen Gläubigen längst gemeindlicher Alltag war.
Der heftigste und schwerwiegendste Konflikt mit dem Vatikan, den Karl Lehmann als Vorsitzender der deutschen Ortsbischöfe auszutragen hatte, war der Streit über die Schwangerenkonfliktberatung. Zur Wendezeit 1989 trafen mit der Fristenregelung der DDR und der Indikationsregelung der BRD unterschiedliche Rechtsnormen aufeinander. Bei der emotional aufgeladenen gesellschaftlichen Debatte um eine Neuregelung der Abtreibungsfrage sahen auf der einen Seite „liberale Kräfte nun die Chance, eine Regelung nach dem Vorbild der DDR in ganz Deutschland durchzusetzen. Auf der anderen Seite gab es in der katholischen Kirche Kräfte, die auf eine restriktivere Regelung hofften. Die große Nähe, auch die personelle Verknüpfung zwischen CDU und katholischer Kirche machten den Konflikt brisant. Es waren Helmut Kohl und Karl Lehmann, die sich einen Kompromiss ausdachten bzw. sich zu eigen machten: Er sah vor, dass Abtreibung verboten ist, aber unter bestimmten Umständen straffrei bleibt.“ (Resing, Nachruf 2018)
Lehmann ging der Abtreibungsproblematik in seinem Eröffnungsreferat - Beratung zwischen Lebensschutz und Abtreibung - bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischöfe 1992 in Fulda auf den Grund. Sein Fazit lautete, dass es der Kirche nicht erlaubt ist, „sich vorschnell aus komplexen und schwierigen Situationen unserer Gesellschaft zurückzuziehen. Auch ein Rückzug in eine vermeintlich eindeutigere und heile Welt kann schuldig machen. Wer gibt zum Beispiel die Ermächtigung, auf die Rettung vieler ungeborener Kinder und die Ermutigung vieler schwangerer Frauen zu verzichten, indem man seinen Auftrag nicht mehr in dem gesetzlichen Beratungssystem erfüllt?“ (Lehmann 2006, S. 169)
Am 29. Juni 1995 beschließt der Bundestag eine Neuregelung des Paragraphen 218. Abtreibungen bleiben straffrei, wenn eine betroffene Frau die Teilnahme an einer Konfliktberatung (Beratungsschein) nachweist und eine 12-Wochen-Frist einhält. Die Bischöfe kritisieren auf ihrer Herbstvollversammlung das neue Gesetz als "lückenhaft und mehrdeutig", beschließen aber, es den Beratungsstellen vorläufig nicht zu untersagen, Beratungsbescheinigungen auszustellen.
In den folgenden Jahren kommt es zu einem Tauziehen zwischen Rom und der deutschen Bischofskonferenz. Karl Lehmann muss sich nicht nur mit dem Vatikan, sondern auch mit Erzbischof Dyba und später Kardinal Meisner auseinandersetzen, die aus der Phalanx der
deutschen Bischöfe ausscheren.
Am 18.09.1999 wird auf Anweisung des Papstes im Vatikan ein Brief erstellt, in dem es unmissverständlich heißt: „Würde der Schein weiterhin als Zugang zur Abtreibung dienen, wäre der ... Vorwurf berechtigt, dass die Kirche eine bloß theoretische Aussage ohne reale Konsequenzen macht. Dem Heiligen Vater liegt es außerordentlich am Herzen, dass die Kirche ... alles meidet, was als Doppeldeutigkeit oder Mangel an Klarheit interpretiert
werden könnte."
Obwohl damit der Zwangsausstieg aus der gesetzlichen Konfliktberatung besiegelt ist, wenden sich Anfang Oktober zwölf deutsche Bischöfe in einem gemeinsamen Brief an Papst Johannes Paul II. und ersuchen ihn um Antwort auf die Frage, wer die Verantwortung dafür übernehmen solle, dass die katholische Kirche nach einem Ausstieg das ungeborene Leben nicht mehr so wirksam schützen könne wie bisher. Im Erwiderungsschreiben von Kardinalstaatssekretär Sodano bekräftigt dieser die bindende Wirkung der Weisung vom September und erklärt die Gewissensnot der Bischöfe für unmaßgeblich.
Während seines Ad-limina-Besuches am 18. November übergibt Bischof Lehmann in einem allerletzten Versuch dem Papst einen Brief, in dem er verzweifelt anfragt, ob es wirklich nicht möglich ist, „wenigstens ‚ad experimentum‘ für einige Jahre eine Pluralität von Beratungsweisen zu erlauben …, bis manche Probleme auch staatlicherseits besser gelöst sind und ein einheitliches Vorgehen auch kirchlicherseits wieder erreichbar ist.“ (Deckers, S. 338) Die Antwort des Papstes trifft am 20. November per Fax ein: „… ich es in einem hohen Maß für schädlich halte, in einer so kennzeichnenden Angelegenheit zwei verschiedene Vorgehensweisen innerhalb desselben Episkopats zu akzeptieren.“
„Vier Jahre lang bot Lehmann Papst Johannes Paul II. die Stirn, versuchte zu vermitteln zwischen deutscher Politik und vatikanischer Moral. Weil der Papst allerdings am Ausstieg festhielt, hätte weiterer Widerstand für Lehmann wohl den Rückzug vom Bischofsamt bedeutet. ‚Wir haben so lange gekämpft. Wir haben verloren‘, konstatierte er enttäuscht und sagte in seiner schwärzesten Stunde: ‚Jetzt müssen wir aber in die Zukunft hin das Beste machen, sonst hängt man immer an den alten Auseinandersetzungen, die nichts mehr bringen.‘ Ein anderer hätte auf eine solche Niederlage wohl mit Verbitterung, Resignation oder Zynismus reagiert. Lehmann dagegen gründete im Januar 2001 in seinem Bistum das ‚Netzwerk Leben‘ für Frauen in Notsituationen.“ (Vera Schmidberger, SWR AKTUELL, 11.03.2018)
Jahrelang hatte Rom den Bischof von Mainz bei Kardinalskreierungen nicht berücksichtigt. Am 21. Januar 2001 ernennt Johannes Paul II. 37 neue Kardinäle - so viele auf einmal, wie das noch bei keinem Papst vor ihm der Fall war. Der seit über 13 Jahren Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz ist nicht darunter. Daraufhin wurden „Geistliche und Laien, In- und Ausländer … in Rom vorstellig“ (Hans Maier, Laudatio 2013) – einer davon war der Bischof der Diözese Opole (Oppeln), Alfons Nossol, - und die römische Vernunft setzte sich doch noch durch. Am 26. Januar erfährt Lehmann von der Apostolischen Nuntiatur in Bonn, dass er nachnominiert ist. Endlich kam Kardinal Lehmann dort an, wo er hingehörte. Er war nach dem heilig gesprochenen Kardinal Carlo Borromeo getauft, vollendete seine 8-jährige wissenschaftliche Ausbildung in Rom mit zwei Doktortiteln und hatte seit jeher eine Affinität zu dem römischen Sinn für Ordnung und Eintracht.
Es ist für Karl Lehmann bezeichnend, dass er, - der sich bereits 1987 gezwungen sah, in fundamentale Auseinandersetzungen mit Rom einzutreten - seinen mächtigeren Gegenspielern Josef Ratzinger und Johannes Paul II. nach seiner Kardinalserhebung versöhnlich entgegentrat: „Als ich zum Kardinal ernannt wurde, war es für mich das allerwichtigste, dass Johannes Paul II. über den Schatten des Streits um die Schwangerenkonfliktberatung gesprungen ist. Er hat es mir nicht übel genommen, dass ich in aller Hartnäckigkeit vier, fünf Jahre eine andere Position als er vertreten habe.“ (Nichtweiß, Hrsg.: Gott ist größer als unser Herz, 2006)
Von Johannes XXIII. über Karl Lehmann zu Franziskus
Als wichtiger Zeitzeuge wurde Karl Kardinal Lehmann häufig im Laufe seines Lebens auf das II. Vatikanum angesprochen. Johannes XXIII. erlebte er als „eindrucksvolle Figur“, die den Mut hatte, den Konzilsprozess als eine „Erneuerung der Kirche im Lichte der ‚Zeichen der Zeit‘“ (Lehmann, Dankesrede 2013) voranzutreiben, auch wenn er dabei institutionelle Einsamkeit erlebte.
Die von Johannes XXIII. in Gang gesetzte Aufbruchsdynamik drängte den überzogenen Zentralismus der Kurie zurück und eröffnete nach innen Räume für synodalen Austausch und Diskurs auf Augenhöhe und nach außen das Sich-Einlassen und den Dialog mit der Welt. Karl Kardinal Lehmann hielt an den Idealen des Konzils ein Leben lang fest und versuchte fortwährend, die Zeichen der Zeit zu ergründen und „daraus weiterführende Imperative für das Handeln zu gewinnen.“ (Fastenpredigt, Februar 2013)
Leider musste er
miterleben, wie viele seiner Handlungsimpulse, die aus drängenden pastoralen
und kirchenpolitischen Problemfeldern erwachsen waren, durch den
wiedererstarkten römischen Zentralismus im Keim erstickt oder auf Anordnung von
oben eliminiert wurden. Erfolgreicher war Lehmann bei der Verteidigung
konziliarer Errungenschaften.
Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes) übergab die Verantwortung für die Familienplanung in die Hände der Eheleute. Diese müssen „in menschlicher und christlicher Verantwortlichkeit ihre Aufgabe erfüllen und in einer auf Gott hinhörenden Ehrfurcht durch gemeinsame Überlegung versuchen, sich ein sachgerechtes Urteil zu bilden. … Dieses Urteil müssen im Angesicht Gottes die Eheleute letztlich selbst fällen.“ (GS 50)
Unter Führung von Kardinal Döpfner verteidigten die deutschen Bischöfe 1968 durch die Königsteiner Erklärung dieses konziliare Vermächtnis. Es war dann an Lehmann, sich ab 1987 gegen Zentralisierungsbestrebungen Johannes Pauls II. zu behaupten, was ihm auch gelang. Mit dem nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia von Papst Franziskus ist dann 2016 die deutsche Linie bestätigt worden: „Die klare Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils bleibt bestehen: Beide sollen durch gemeinsame Überlegung versuchen, sich ein sachgerechtes Urteil zu bilden. … Dieses Urteil müssen im Angesicht Gottes die Eheleute letztlich selbst fällen.“ (Al 222)
Neben äußeren Parallelitäten – beide wurden 1936 geboren, beide sind seit 2001 Kardinäle -besteht zwischen Karl Lehmann und Papst Franziskus auch eine große geistig-geistliche Affinität. Als Jorge Mario Bergoglio beim Vorkonklave im März 2013 seine kurze Rede hielt, sprach er von der kranken, um sich selbst kreisenden Kirche, die vom verderbten Geist des theologischen Narzissmus beherrscht ist. Man konnte sich dabei an Aussagen Lehmanns im Jahr zuvor erinnert fühlen:
„Kirche ist immer in Bewegung: Sie kommt vom dreifaltigen Gott her und ist zu den Menschen gesandt. … Sie verfehlt ihre Aufgabe, wenn sie um sich kreist und sich nicht der Not der Welt sowie den Wunden der Zeit zuwendet und die Menschen zu Gott führt.“ (Vortrag, März 2012) und
„Der größte Sündenfall für die Kirche ist die Selbstgenügsamkeit. Wenn wir begreifen, dass das Gesendet-Werden und Über-Sich-Hinausgehen zum Wesen der Kirche gehört, wird die bleibende Neuheit des Christentums auch in Zukunft alle Grenzen durchbrechen. Kirche ist immer im doppelten Sinne über sich hinaus: auf Gott und die Menschen hin.“ (Vortrag, Juni 2012)
Nachdem Papst Franziskus ein halbes Jahr im Amt war, sagte er im Verlauf eines Interviews mit der italienischen Tageszeitung La Repubblika folgendes: „Das Zweite Vatikanische Konzil beschloss, die Zukunft mit einem modernen Geist anzusehen und sich der modernen Kultur zu öffnen. Die Väter des Konzils wussten, dass das Ökumene und Glaubensdialog bedeutete. Seitdem ist in dieser Richtung wenig geschehen. Ich bin so bescheiden und so ehrgeizig, das wieder zu tun.“
Franziskus nimmt den Faden auf, an dem sich Kardinal Lehmann jahrzehntelang orientiert hat. Eine späte Frucht von Lehmanns ökumenischem Engagement würdigt Kardinal Marx in seinem Nachruf: „Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung 1999 geht wesentlich auf das Verhandlungsgeschick Karl Lehmanns zurück.“ Und was den Glaubensdialog mit wiederverheirateten Geschiedenen angeht, so ist – im Anschluss an Amoris laetitia - mit dem Wort der deutschen Bischofskonferenz zur erneuerten Ehe- und Familienpastoral vom Februar 2017 das pastorale Praxis geworden, was Bischof Lehmann 1993 zusammen mit Bischof Kasper und Erzbischof Saier für wiederverheiratet Geschiedene avantgardistisch in Angriff genommen hatten.
Ein Jahr später steht der Kommunionempfang konfessionsverschiedener Ehepartner auf der Tagesordnung. Die überwiegende Mehrheit der Bischofskonferenz ist sich einig, sieben Bischöfe – davon sechs Bayerische – wenden sich an Rom und äußern „Zweifel, ob der Beschluss mit der Glaubenslehre und der Einheit der Kirche vereinbar sei.“ Dieses Muster wäre Karl Lehmann ausgesprochen bekannt vorgekommen. Nur, das kuriale Rom mit Papst Franziskus an der Spitze ist ein anderes, als das, mit dem er sich über viele Jahre hinweg herumschlagen musste.
Im großen Interview von 2016 kommt Lehmann auf die Grundausrichtung zu sprechen, die ihn mit Papst Franziskus verbindet, nämlich eine synodalere Kirche. Welch‘ Genugtuung muss es für den Kardinal gewesen sein, als er aus dem Munde des Pontifex vernimmt, was schon immer sein Anliegen war: „Eine Synode müsse frei sein und dürfe keiner Zensur unterliegen; sonst sei es keine Synode. Auch die Organismen der Teilkirchen, also die Synoden in Ländern und Sprachgemeinschaften, sollten mehr Kompetenz bekommen.“ (Mit langem Atem, S. 120)
Am Tag nach Kardinal Lehmanns Tod schickt Papst Franziskus ein Telegramm an den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, in dem er in sehr treffenden Worten den Verstorbenen würdigt:
„In seinem langjährigen Wirken als Theologe und Bischof wie auch als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz hat Kardinal Lehmann das Leben von Kirche und Gesellschaft mitgeprägt. Stets war es sein Anliegen, offen zu sein für die Fragen und Herausforderungen der Zeit und von der Botschaft Christi her Antwort und Orientierung zu geben, um die Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und über die Grenzen von Konfessionen, Überzeugungen und Ländern hinweg das Verbindende zu suchen.“
Schluss
Nach einem Bibelvers Ausschau haltend, der zu Karl Lehmann passt, fiel mir Matthäus 5.13 ein: „Ihr seid das Salz der Erde.“
Der Professor und Bischof hat sich weder dem gerade vorherrschenden Zeitgeist angepasst, noch ist er in die spirituelle Attitüde des weltabgewandten Glaubenseiferers geflüchtet. Um seiner Mission der dialogischen Konsensfindung nachkommen zu können, brachte er signifikante Voraussetzungen mit. Er war in seinem Glauben und seiner Kirche fest verankert, er war mit seinem weiten Bildungshorizont auf der Höhe der Zeit und er war in der Lage konstruktiv zu streiten – unabhängig davon, ob sein Gegenüber ihm wohlwollend oder feindlich gesinnt war. Wichtig war auch, dass er aufgrund seiner geschulten Intellektualität einfachen Wahrheiten misstraute und über genügend Ambiguitätstoleranz verfügte, um Problemstellungen multiperspektivisch anzugehen. Bereits beim Konzil und stärker noch bei der Würzburger Synode machte er die Erfahrung, dass es sich lohnt, mutig in die offene Debatte zu gehen. „Die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, auch wenn man sehr unterschiedliche Positionen vertritt, und bei aller Unterschiedlichkeit doch in Dialog und Disput einzutreten, kann Wunder wirken …Das ist ein Lehrstück gewesen: man kann auch mit Leuten zurechtkommen, bei denen man es vorher nicht vermutet hat.“ (Mit langem Atem, S. 24)
„Auf die Frage, was einen guten Bischof ausmache, betonte Lehmann, der Oberhirte müsse Gesprächspartner auch für die nicht-kirchliche Umgebung sein, für Wirtschaft und Politik, Kultur und Wissenschaft: ‚Innerkirchlich wird oft unterschätzt, wie sehr man für Kirche außerhalb der Kirche da sein muss. Wir brauchen den Mut zum Dialog‘“ (Nellessen, Nachruf 2018)
Lehmann war sich nicht zu schade, die Durststrecken und Glanzlosigkeiten zeitgenössischen Christ- und Kircheseins (vgl. Ruh 2018) bewusst anzunehmen und er hatte den langen Atem und die Zuversicht, die man braucht, um sich unermüdlich für die gute Sache zu engagieren. Das Wort Zuversicht benannte er einmal der Duden-Reaktion gegenüber als sein Lieblingswort.
„Die Zuversicht ist Sache aller Christen. Wir fliegen dabei nicht leichtfüßig und illusionär über die oft harte und brutale Wirklichkeit unserer Welt hinweg, und diese Hoffnung wird häufig auch durch uns selbst, durch unsere Furcht, unsere Zweifel und unseren Kleinglauben verdeckt. Liebe Schwestern und Brüder, dies ist auch das Bekenntnis meines Lebens." (Predigt im Pontifikalgottesdienst am 16. Mai 2006 zum 70. Geburtstag)
Sein Gottvertrauen bewahrte ihn vor der menschlichen Hybris, alles selbst bewerkstelligen zu müssen. Bei den langen Wegen, die Lehmann gegangen ist, und deren Zielpunkte er nicht mehr miterlebt hat, tröstete ihn eine Geschichte aus dem Alten Testament (5 Mose 32.52). „Mose steht am Rand des Gelobten Landes, schaut hinein, und Gott sagt zu ihm: Du gehst jetzt hier nicht mehr hinein, du kannst jetzt hier noch hinein sehen, aber du wirst es nicht mehr betreten. Das ist für mich ein Modell, man ist eine gewisse Wegstrecke gegangen, sieht von ferne, wie es einmal werden könnte, kann das aber nicht mehr betreten.“ (SWR 2 Glauben: Karl der große Brückenbauer. 28.09.2008)
Als Philipp Gessler vor zwei Jahren Karl Kardinal Lehmann fragte, in welcher Haltung er auf den Tod zugehen würde, verwies er auf seinen Namenspatron und Amtspatron, den Heiligen Karl Borromäus (1538 - 1584). Vor die Situation gestellt, dass er nur noch einen Tag, eine Stunde zu leben hätte, gab dieser zur Antwort: „Ich würde das, was ich mache, so gut machen, wie ich kann.“
So war Karl Lehmann: Er wich keiner Herausforderung aus, schonte sich nicht und machte alles so gut, wie er nur konnte.
Der Beitrag verdankt sein inhaltliches Fundament der von Daniel Deckers geschriebenen Biographie Karl Kardinal Lehmanns.
Deckers, Daniel: Der Kardinal. Karl Lehmann. Eine Biographie. 2002
Deckers, Daniel: Zum Tod von Kardinal Lehmann. Ratgeber und Gesprächspartner in allen Lebenslagen. In: Frankfurter Allgemeine, 11.03.2018
Florin, Christiane: Der Freigeist mit Kardinalshut. Deutschlandfunk, 12.03.2018
Gessler, Philipp: Der liberale Katholik. In: taz, 11.03.2018
Gessler, Philipp: "Das Gebet um einen guten Tod ist für mich wichtiger geworden". Kardinal Lehmann im Gespräch mit Philipp Gessler. Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 15.05.2016
Fuchs, Gotthard: Karl Lehmann. Der Dolmetscher. In: Christ in der Gegenwart, 18.03.2018
Kasper, Walter Kardinal: Kardinal Karl Lehmann zum 70. Geburtstag. Laudatio. In: Nichtweiß 2006
Lehmann, Karl Kardinal: Zuversicht aus dem Glauben. Freiburg 2006
Lehmann, Karl Kardinal: Das Leben der Kirche im Wagnis der Moderne. Vortrag im Meister-Eckart-Forum „Zur Sache" am 15. März 2012
Lehmann, Karl Kardinal: Über die Zukunft des Christentums. Vortrag in der Polytechnischen Gesellschaft e.V. am 4. Juni 2012 in der Historischen Villa Metzler
Lehmann, Karl Kardinal: Brückenbauer. Lern- und Lehrjahre zwischen Lebensgeschichte, Wissenschaft und Praxis der Kirche. Dankesrede bei der Verleihung des Theologischen Preises der Salzburger Hochschulwochen am 31. Juli 2013
Lehmann, Karl: Mit langem Atem. Der Kardinal im Gespräch mit Markus Schächter. Freiburg 2016
Maier, Hans: Aufrechter Gang. Laudatio für Karl Kardinal Lehmann zur Verleihung des Theologischen Preises. In: Hoff, Gregor Maria. Gefährliches Wissen 2013
Marx, Reinhard Kardinal: Zum Tod von Kardinal Karl Lehmann. Deutsche Bischofskonferenz, Pressemeldung Nr. 037, 11.03.2018
Nellessen, Monika: Kardinal der Herzen - Ein Nachruf auf den verstorbenen Kardinal Karl Lehmann. In: Allgemeine Zeitung, Rhein-Main, 11.03.2018
Nichtweiß, Barbara (Hg.): Gott ist größer als unser Herz. Der 70. Geburtstag von Karl Kardinal Lehmann und das Mainzer Bistumsfest. Berichte, Texte, Bilder. Publikationen
Bistum Mainz 2006
Öhler, Andreas: Kardinal Lehmann geht in Rente. Was hat er als Bischof in Mainz bewirkt? In: Christ & Welt, 21.04.2016
Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen (ÖAK). Nachruf auf den langjährigen wissenschaftlichen Leiter und Vorsitzenden Karl Kardinal Lehmann. 2018
Pfeiffer, Petra: Der große Brückenbauer. Zum Tod von Karl Kardinal Lehmann. SWR 2 Glauben, Beitrag vom 11.03.2018
Resing, Volker: Gottes geduldiger Ungeduldiger. In: Die Welt, 12.03.2018
Ruh,Ulrich: Karl Lehmann - ein intellektuelles Porträt. In: Weg und Weite 2001, S. 3-10
Schmidberger, Vera: Karl Kardinal Lehmann gestorben. Aus: SWR aktuell, 11.03.2018
Weiffen / Weißenberger: „Eine gediegene Freiheit war mir wichtig“. Kardinal Karl Lehmann über das Priestertum und seine Amtszeit als Bischof. In: Kirchenzeitung für das Bistum Mainz. Extra 10/2013
Der Beitrag verdankt sein inhaltliches Fundament der von Daniel Deckers geschriebenen Biographie Karl Kardinal Lehmanns.
Deckers, Daniel: Der Kardinal. Karl Lehmann. Eine Biographie. 2002
Deckers, Daniel: Zum Tod von Kardinal Lehmann. Ratgeber und Gesprächspartner in allen Lebenslagen. In: Frankfurter Allgemeine, 11.03.2018
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Gessler, Philipp: Der liberale Katholik. In: taz, 11.03.2018
Gessler, Philipp: "Das Gebet um einen guten Tod ist für mich wichtiger geworden". Kardinal Lehmann im Gespräch mit Philipp Gessler. Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 15.05.2016
Florin, Christiane: Der Freigeist mit Kardinalshut. Deutschlandfunk, 12.03.2018
Gessler, Philipp: Der liberale Katholik. In: taz, 11.03.2018
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Kasper, Walter Kardinal: Kardinal Karl Lehmann zum 70. Geburtstag. Laudatio. In: Nichtweiß 2006
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Lehmann, Karl Kardinal: Das Leben der Kirche im Wagnis der Moderne. Vortrag im Meister-Eckart-Forum „Zur Sache" am 15. März 2012
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Nellessen, Monika: Kardinal der Herzen - Ein Nachruf auf den verstorbenen Kardinal Karl Lehmann. In: Allgemeine Zeitung, Rhein-Main, 11.03.2018
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