Samstag, 12. Dezember 2015

Bischofssynode 2014/15: Zwischenstation eines tiefgreifenden Umbauprozesses der katholischen Kirche


1. Einleitung

2. Die von Franziskus vorgefundene kirchenpolitische Ausgangslage

3. Anspruch und Zielsetzung der auf den Weg gebrachten Bischofssynode


4. Die Dramaturgie der Bischofssynode


 4.1 Die Wiedervorlage des Pastoralsektors „Wiederverheiratet Geschiedene“
 4.2 Rigorose Morallehre versus jesuanische Menschenfreundlichkeit
 4.3 Der Synodenverlauf

5. Wie sind die Synodenergebnisse zu bewerten?


 5.1 Der Kommentar von Roberto de Mattei
 5.2 Der Präfekt der Glaubenskongregation denkt um
 5.3 Die Wieder-in-Kraft-Setzung des Gewissens

6. Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter



1. Einleitung


Am 25. Oktober 2015 endete die Ordentliche Bischofssynode in Rom mit einer  feierlichen Abschlussmesse. Papst Fanziskus stellte in seiner Predigt wieder einmal heraus, um was es ihm geht: „Die Situationen von Elend und Konflikt sind für Gott Gelegenheiten zur Barmherzigkeit. Heute ist die Zeit der Barmherzigkeit!“  (Predigt Franziskus, 25.20.2015)
Am Tag zuvor hatte er in seiner Abschlussrede zur Weltfamiliensynode denjenigen episkopalen Mitbüdern, die im Synodenprozess zeigten, dass ihnen die Barmherzigkeit nicht oberstes Anliegen ist, ins Stammbuch geschrieben, dassdie wahren Verteidiger der Lehre nicht jene sind, die den Buchstaben verteidigen, sondern die, welche den Geist verteidigen; die nicht die Ideen, sondern den Menschen verteidigen; nicht die Formeln, sondern die Unentgeltlichkeit der Liebe Gottes und seiner Vergebung.“ (Franziskus: Abschlussrede zum Ende der Weltfamiliensynode, 24.10.2105)

Der Papst kehrte also nicht unter den Teppich, dass es ab seiner Ankündigung einer Doppelbischofssynode  zum Thema „Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Rahmen der Evangelisierung" am 08.10. 2013 ein Ringen gab zwischen den Kräften in der Kirche, die unter allen Umständen an der bestehenden rigorosen Morallehre festhalten wollen, und denjenigen, die sich eine Öffnung der Kirche insbesondere zu den wiederverheirateten Geschiedenen und den gleichgeschlechtlich Liebenden hin wünschen. Indem Papst Franziskus das von Johannes Paul II. und seinem Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, fest verschnürte Paket der Familienpastoral wieder aufknüpfte, löste er ein, was er am 24. September 2013 in einem Interview angekündigt hatte: „Das Zweite Vatikanische Konzil beschloss, die Zukunft mit einem modernen Geist anzusehen und sich der modernen Kultur zu öffnen. Die Väter des Konzils wussten, dass das Ökumene und Glaubensdialog bedeutete. Seitdem ist in dieser Richtung wenig geschehen. Ich bin so bescheiden und so ehrgeizig, das wieder zu tun.“

Papst Franziskus sah deutlich, dass er – wenn Neues eine Chance haben sollte – die starren und hierarchischen Strukturen der römischen Zentrale aufmischen musste. Er bezog daher die ganze Kirche mit ein, indem er zwei weltweite Fragebogenaktionen initiierte, und er sorgte für eine dynamische Synode dadurch, dass die beiden Teilsynoden im Rahmen eines zweijährigen diskursiven Prozesses stattfanden. Was in den beiden Jahren ablief, war durchaus spannend und führte zu Ergebnissen, die von den Kommentatoren sehr unterschiedlich bewertet wurden. Unabhängig von diesen Ergebnissen ist es zu einer Verlebendigung der katholischen Kirche gekommen – Stichwort Synodalität - und die Synodenpapiere sind in einer Sprache formuliert, die bezeugt, dass die Kirche die Menschen nicht verurteilen sondern pastoral begleiten will.

In meinem Blogbeitrag versuche ich den - die Synode beherrschenden - zentralen, oft untergründigen Richtungsstreit sichtbar zu machen, der auf einem kleinen Schauplatz des großen pastoralen Feldes ausgefochten wird, nämlich da, wo es um den Umgang der katholischen Kirche mit den wiederverheiratet Geschiedenen geht.


2. Die von Franziskus vorgefundene kirchenpolitische Ausgangslage



Der Pontifex sieht sich bei seinem Amtsantritt 2013 einer Kirche gegenüber, in der Rom alles an sich gezogen hat und die Angelegenheiten der Kirche autokratisch von oben herab entschieden werden. Die dynamische Kirche der Konzilszeit ist zu einem erstarrten, lethargischen Apparat geworden.

Johannes Paul II. und seine rechte Hand, der Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger, formten ab dem Jahr 1982 die katholische Kirche als Hort der Glaubenswahrheiten, der ein Fels in der Brandung gesellschaftlicher Beliebigkeiten sein sollte. Kritische Betrachter erlebten eine immer lebensfremder werdende Kirche, die jeden Ansatz von Veränderung bekämpfte und zu deren Beschreibung sich die Metapher des Zubetonierens anbot. Die Rede vom Betonieren ist deshalb angemessen, weil Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger bestimmte Lehrauffassungen als letztgültig postulierten und diese so fassten, dass sie jeglicher zukünftiger Veränderung entzogen sein sollten.

Dazu zwei Beispiele aus dem Jahr 1994. In seinem apostolischen Schreiben Ordinatio Sacerdotalis dekretierte der polnische Papst:
„ … erkläre ich kraft meines Amtes …, dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und daß sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben.“

Beim zweiten Beispiel geht es um den Kommunionempfang der wiederverheiratet Geschiedenen und damit um eines der zentralen Themen der Doppelbischofssynode 2014/15. Der Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, bestimmte in einem Schreiben an die Bischöfe:
„Wenn Geschiedene zivil wiederverheiratet sind, befinden sie sich in einer Situation, die dem Gesetz Gottes objektiv widerspricht. Darum dürfen sie, solange diese Situation andauert, nicht die Kommunion empfangen.“ 
(Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche, 14.09.1994)

Die letztere Doktrin betreffend wurde in der Folgezeit von theologischer Seite Widerspruch angemeldet. Die Kirche dürfe die rechtliche Norm nicht absolut setzen und müsse Ausnahmefälle in Betracht ziehen, die vor dem Hintergrund von Gewissensentscheidungen der einzelnen Gläubigen her zu beurteilen seien. Hier sah sich Joseph Ratzinger herausgefordert und schob dieser Auffassung 1998 einen Riegel vor:
Die Unauflöslichkeit der Ehe wäre eine Norm göttlichen Rechts, die auf den Herrn selbst zurückgeht und über die die Kirche keine Verfügungsgewalt hat. „Wenn die vorausgehende Ehe von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen gültig war, kann ihre neue Verbindung unter keinen Umständen als rechtmäßig betrachtet werden, daher ist ein Sakramentenempfang aus inneren Gründen nicht möglich. Das Gewissen des einzelnen ist ausnahmslos an diese Norm gebunden.“
(Joseph, Kardinal Ratzinger: Zu einigen Einwänden gegen die kirchliche Lehre über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen, 01.01.1998)

Seine als Präfekt der Glaubenskongregation getroffene Anordnung bekräftigte Benedikt XVI. anlässlich einer Vollversammlung des Päpstlichen Familienrates, indem er seinen Essay von 1998 – dem obiges Zitat entstammt – am 30.11.2011 im Osservatore Romano neu veröffentlichen ließ.

Als Jorge Mario Bergoglio beim Vorkonklave im März 2013 die Bühne der Weltkirche betrat, scheute er sich nicht, den Finger in die Wunden der katholischen Kirche – so wie sie sich ihm darstellte – zu legen. Er kritisierte die kranke, um sich selbst kreisende Kirche, die vom verderbten Geist des theologischen Narzissmus beherrscht ist. Aus dieser Diagnose leitete er ab, dass aus der mondänen Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt, eine verkündigende Kirche werden muss, die an die Peripherien geht und sich den Menschen zuwendet. Und er sprach auch schon von notwendigen Veränderungen und Reformen. Die Frische des Auftritts von Bergoglio hat wohl vielen Purpurträgern imponiert. Wenn man allerdings 2½ Jahre später vernimmt, dass viele Kardinäle ihn heute nicht noch einmal wählen würden, dann scheint einigen von ihnen nicht klar gewesen zu sein, dass Bergoglio ein Mann ist, der seinen Worten Taten folgen lässt.


3. Anspruch und Zielsetzung der auf den Weg gebrachten Bischofssynode


Wer Franziskus gut zuhört, kann schon einem, im August 2013 von Antonio Spadaro SJ geführten Interview entnehmen, dass der Papst eine andere Kirche will.
„Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Sie müssen ein Gespräch führen und in die Nacht hinabsteigen können, in ihr Dunkel, ohne sich zu verlieren. Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker. … Statt nur eine Kirche zu sein, die mit offenen Türen aufnimmt und empfängt, versuchen wir, eine Kirche zu sein, die neue Wege findet, die fähig ist, aus sich heraus und zu denen zu gehen, die nicht zu ihr kommen, die ganz weggegangen oder die gleichgültig sind.“

Das ist eine Kampfansage an die sich selbst beweihräuchernde Kirche (Ansprache Vorkonklave), die von ihrem Podest vermeintlicher moralischer Überlegenheit aus auf die Menschen herabschaut und allenfalls bereit ist, sich denen gnädig zuzuwenden, die ihre Bereitschaft zur Umkehr kundtun. Aus postfamiliensynodaler Perspektive lässt sich das so auf den Begriff bringen, dass der Papst beabsichtigt, die bislang eher als verurteilend zu charakterisierende Kirche in eine Kirche der Barmherzigkeit umzuwandeln.
Wie der Pontifex seine Programmatik auf den Weg bringen will, lässt er am 24. September 2013 im Interview mit Eugenio Scalfari, einem der führenden Journalisten Italiens, anklingen. Als Oberhaupt der Christen, die eine Minderheit in der Welt sind, sagt er: 
„Wir müssen das Treibmittel des Lebens und der Liebe sein. Wir müssen den Jungen wieder Hoffnung geben, wir müssen den Alten helfen, wir müssen uns der Zukunft öffnen und Liebe verbreiten … Das Zweite Vatikanische Konzil beschloss, die Zukunft mit einem modernen Geist anzusehen und sich der modernen Kultur zu öffnen. Die Väter des Konzils wussten, dass das Ökumene und Glaubensdialog bedeutete. Seitdem ist in dieser Richtung wenig geschehen. Ich bin so bescheiden und so ehrgeizig, das wieder zu tun.“

Franziskus hat bereits die Doppelbischofssynode 2014/15 vor Augen, die er am 08.10.2013 ankündigen wird. Und diese Synode soll ganz anders werden als diejenigen, die unter Johannes Paul II. und Benedikt tagten und von denen der Jesuit und Vatikankenner Thomas Reese folgenden Eindruck gewonnen hat:
„Theoretisch können die Bischöfe bei einer Synode sagen, was sie wollen, doch in der Praxis tendieren sie zu einer ausgesprochen devoten Haltung gegenüber dem Papst und seinen Ansichten. Niemand will als sein Gegner gelten, und das beeinträchtigt den gesamten synodalen Prozess, vom Vorbereitungsstadium bis zur Niederschrift der nachsynodalen Dokumente. Tatsächlich scheinen viele Bischöfe Angst zu haben, eine andere Meinung als der Papst zum Ausdruck zu bringen, was eine derartige Unterwürfigkeit zur Folge hat, dass der Papst nach Ansicht von Kritikern überhaupt keinen ehrlichen Rat mehr bekommt.“ (Reese, 1998, S. 86)

Diese Einschätzung vermittelt das Bild einer gleichgeschalteten Kirche, was nicht verwundert, wenn man weiß, dass unter Johannes Paul II. und Benedikt das Hauptkriterium bei Bischofsneuernennungen die Identifikation mit der katholischen Lehre und der Gehorsam gegenüber dem Papst war. Bei der diesjährigen ordentlichen Synode hatte es Franziskus mit Synodenvätern zu tun, die zu 90 Prozent von Johannes Paul II. oder Benedikt ernannt worden waren. Von daher war von vornherein klar, dass die Synodenergebnisse kein großer Wurf werden konnten.

Dass es Franziskus mit einem Umbau der Kirche ernst ist, kann man dem apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium entnehmen, das am 24.11.2013 zum Abschluss des Jahres des Glaubens veröffentlicht wurde.
„Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von den anderen verlange, muss ich auch an eine Neuausrichtung des Papsttums denken. Meine Aufgabe als Bischof von Rom ist es, offen zu bleiben für die Vorschläge, die darauf ausgerichtet sind, dass eine Ausübung meines Amtes der Bedeutung, die Jesus Christus ihm geben wollte, treuer ist und mehr den gegenwärtigen Notwendigkeiten der Evangelisierung entspricht. … Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen.“

Zu den Lieblingsredewendungen des Papstes zählt Hagamos lio – Macht Wirbel!, und entsprechend diesem Motto verpasst er der Synode eine Bottom-up-Struktur, was die Anhänger der nachkonziliaren, auf Befehl und Gehorsam zugerichteten Kirche auf die Barrikaden brachte. Franziskus startete eine weltweite Fragebogenaktion und beauftragte die jeweils zuständigen Bischofskonferenzen, die Ergebnisse zu bündeln. Das zu erwartende Ergebnis war, dass in der einen katholischen Kirche große regionale und kulturelle Unterschiede bestehen. Mit der - die innerkirchlichen Divergenzen aufnehmenden - empirischen Realitätserfassung war die Grundlage für kontroverse Debatten auf der Bischofssynode gelegt.

Das von Franziskus vorgegebene Prozedere der Synode ist bereits der erste Schritt bei der Umgestaltung der zentralistischen Papstkirche in Richtung eines Petrusdienstes, der sich als Teil einer kirchlichen Communio versteht. Nach Hermann Pottmeyer beinhaltet ein solcher Communio-Primat „nicht nur das Hören auf Schrift und Tradition und nicht nur die kollegiale Beiziehung des Episkopats, sondern auch das aufmerksame Hören auf das vielstimmige Zeugnis der ganzen communio des Volkes Gottes, in dem sich das Wirken des Geistes bezeugt.“ (Pottmeyer 1999, S. 114)



4. Die Dramaturgie der Bischofssynode


4.1 Die Wiedervorlage des Pastoralsektors „Wiederverheiratet           Geschiedene“


Im Vorfeld der auf den Weg gebrachten Synode fand im März 2014 ein außerordentliches Konsistorium (sc. Vollversammlung der Kardinäle) in Rom statt, das sich mit dem Thema Familie befasste und auf Wusch des Papstes mit einem Referat des Kardinals Walter Kasper beginnen sollte. Für den konservativen Flügel war dies ein Affront, denn eben dieser Kardinal hatte im Jahr 1993 als Bischof von Rottenburg-Stuttgart zusammen mit seinen oberrheinischen Bischofskollegen Oskar Saier und Karl Lehmann eine Initiative gestartet und die Frage aufgeworfen, wie man den Geschiedenen und den wiederverheirateten Geschiedenen in ihrer schwierigen menschlichen Situation die Nähe Gottes glaubwürdig bezeugen kann. Diese „sollen erfahren, dass sie in der Gemeinde angenommen sind und dass die Gemeinde Verständnis hat für ihre schwierige Situation. Sie sollen die Kirche als heilende und helfende Gemeinschaft erleben.“ (Gemeinsames Hirtenschreiben der Bischöfe vom 10.07.1993)

Den parallel verlautbarten seelsorglichen Leitlinien, die sich an die Hauptamtlichen richteten, lässt sich entnehmen, wie eine Reintegration von wiederverheirateten Geschiedenen in die Gemeinde vonstatten gehen könnte:
„Es kann … keine allgemeine und förmliche, amtliche Zulassung geben, weil damit die Treue der Kirche zur Unauflöslichkeit der Ehe verdunkelt würde. … Aber in dem klärenden seelsorglichen Gespräch der Partner einer zweiten ehelichen Bindung mit einem Priester, in dem die ganze Situation gründlich, aufrichtig und objektiv aufgehellt wird, kann sich im Einzelfall herausstellen, dass die Ehepartner (oder auch ein Ehepartner für sich allein) sich in ihrem (bzw. seinem) Gewissen ermächtigt sehen, an den Tisch des Herrn zu treten.“ 
(Grundsätze für eine seelsorgliche Begleitung, Juli 1993)

Diese sich als tolerant und wohlwollend präsentierende pastorale Lösung – so Joseph Ratzinger - wird von dem Präfekten der Glaubenskongregation in seinem Lehrschreiben vom 14.09.1994 entschieden zurückgewiesen:
Wenn Gläubige, die wiederverheiratet geschieden sind, es für möglich hielten, an der Eucharistie teilzunehmen, so „haben die Hirten und Beichtväter … die emste Pflicht, sie zu ermahnen, dass ein solches Gewissensurteil in offenem Gegensatz zur Lehre der Kirche steht.“  
(Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche, 14.09.1994)

Über 20 Jahre später nutzt Kardinal Kasper die ihm vom Papst eingeräumte Gelegenheit, seine nach wie vor unveränderte Position vor dem Kardinalskollegium darzulegen. Im Hinblick auf Menschen, die von der Ungültigkeit ihrer ersten Ehe überzeugt sind, schlägt er als Alternative zu dem bisherigen kirchenrechtlichen Verfahren ein seelsorgerisches Prozedere auf Diözesanebene vor. Und die Frage des Sakramentenempfangs von geschiedenen Wiederverheirateten betreffend, nennt er fünf Bedingungen, die, wenn sie erfüllt sind, einen Ausschluss des Gläubigen von der Eucharistie als nicht gerechtfertigt erscheinen lassen.

4.2 Rigorose Morallehre versus jesuanische Menschenfreundlichkeit


Als sich Papst Benedikt 2010 im Gespräch mit Peter Seewald hinsichtlich begründeter Einzelfälle relativierend zur Kondomverwendung äußerte, rief dies bei dem Pfarrer Stefan Hippler, der in Südafrika im Bereich von HIV/AIDS arbeitet, eine optimistische Vision hervor: Ich sehe „einen ersten feinen Haarriss in einer Mauer aus Beton. Wer ein wenig von Physik versteht, der weiß, dass solche feinen Risse größer werden.“ (SZ, 23.11.2010)  Mit Franziskus steht inzwischen ein Mann an der Spitze der katholischen Kirche, der die Kritik an der Starre und Hypertrophie der katholischen Morallehre teilt. In einem Interview im August 2013 wirft er der zeitgenössischen Kirche vor, dass diese ihre dogmatischen wie moralischen Lehren zu wichtig nehmen würde. „Die Verkündigung der heilbringenden Liebe Gottes muss der moralischen und religiösen Verpflichtung vorausgehen. Heute scheint oft die umgekehrte Ordnung vorzuherrschen.“ Für den Papst ist es unabdingbar, dass sich die Kirche neu ausrichtet, weil sonst „auch das moralische Gebäude der Kirche wie ein Kartenhaus zusammen(fällt).“
(Antonio Spadaro SJ, 25.09.2013)

Am 08.10.2013 kündigte Franziskus eine Familiensynode an, was sofort die Protagonisten des konservativen Flügels der katholischen Kirche auf den Plan rief, denn diese sahen keinen Anlass, etwas neu zu debattieren, das in ihren Augen bereits von Paul VI. und Johannes Paul II. aufs Beste geregelt war. Bereits am 23.10.2013 veröffentlichte einer der wichtigsten Exponenten auf der konservativ-traditionalistischen Seite, der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, einen Beitrag im Osservatore Romano zum Thema „Wiederverheiratete Geschiedene“. Er antizipierte dadurch frühzeitig einen springenden Punkt der kommenden Familiensynode und stellte von vornherein klar, was - seiner Meinung nach - jeglicher Diskussion entzogen ist.

Müller beansprucht, die authentische Lehre der Kirche verständlich zu machen, und will „vom Wort Gottes ausgehen, das in der Heiligen Schrift enthalten, in der kirchlichen Tradition ausgelegt und vom Lehramt verbindlich interpretiert wird.“ Verbindlich ist für Müller die Aussage Benedikts, die dieser 2011 erneut veröffentlichen ließ: „Wenn die vorausgehende Ehe von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen gültig war, kann ihre neue Verbindung unter keinen Umständen als rechtmäßig betrachtet werden, daher ist ein Sakramentenempfang aus inneren Gründen nicht möglich. Das Gewissen des einzelnen ist ausnahmslos an diese Norm gebunden.“  
In konsequenter Fortführung dieser Position verweist Müller auf eine umfassendere Pastoral, die beinhaltet, „dass es außer der sakramentalen Kommunion noch andere Weisen der Gemeinschaft mit Gott gibt. … Gott kann den Menschen auf unterschiedlichen Wegen seine Nähe und sein Heil schenken, auch wenn sie sich in einer widersprüchlichen Lebenssituation befinden.
(Erzbischof Gerhard Ludwig Müller: Zur Unauflöslichkeit der Ehe und der Debatte um die zivil Wiederverheirateten und die Sakramente, 23.10.2013)

Worum es extrem konservativen und traditionalistischen Katholiken letztlich geht, bringt Roberto de Mattei auf den Punkt. Die katholische Moral kennt keine Ausnahmen: entweder sie ist absolut und universal oder sie ist kein Moralgesetz.“
(Kommentar von Roberto de Mattei, 27.10.2015)
Würde man Einzelfälle in den Blick nehmen und Umstände geltend machen, die eine Zulassung zur Kommunion rechtfertigen könnten, dann hätte dies – so Mattei – die Relativierung und letzlich die Auflösung des Moralgesetzes zur Folge. „Wenn erst einmal die Legitimität des nachehelichen Zusammenlebens zulässig ist, wäre es nicht einsichtig, warum nicht auch das voreheliche Zusammenleben erlaubt sein sollte, wenn ‚stabil und aufrichtig’.“ 
(Roberto de Mattei: Was Gott vereint kann auch Kasper nicht trennen - Versuch einer paradoxen Kulturrevolution in der Kirche, 04.03 2014)
Für den konservativen Flügel geht es ums Ganze. Es muss unter allen Umständen verhindert werden, dass auch nur ein einziges Element aus dem katholischen Moralgebäude herausgebrochen wird, denn das wäre - in Benedikt’scher Diktion - der Beginn einer Diktatur des Relativismus.

Grundsätzlich lassen sich zwei Felder der Auseinandersetzung unterscheiden. Zum einen geht es um voreheliche oder uneheliche Mann-Frau-Beziehungen, die potenziell in eine legitimierte Ehe münden könnten. Hier wären sich konservativer und progressiver Flügel in der Zielrichtung einer späteren sakramentalen Ehe einig, Benennung und Bewertung wären allerdings von der konservativen Seite her eher stigmatisierend und verurteilend, während die Reformbereiten bereits vorhandene positive Aspekte wertschätzen würden.

Auf dem anderen Feld stehen sich die beiden Flügel allerdings unversöhnlich gegenüber. Für die Traditionalisten stehen Zweitehen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften grundsätzlich außerhalb katholischer Sittlichkeit, während die Veränderungsoffenen auf die Qualität von Zweierbeziehungen abheben und sich für Kriterien wie Ausschließlichkeit, dauerhafte Bindung und wechselseitiges Füreinander-Einstehen aussprechen.

Im Hinblick auf die Synode ist das Bild von zwei Zügen, die aufeinander zu rasen, gebraucht worden. Die Protagonisten des einen Zuges sind unter anderen Kardinal Kasper – der sich von Franziskus herausgehoben weiß -, Kardinal Marx und Kardinal Schönborn, den anderen Zug repräsentieren Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Präfekt der Glaubenskongregation, Kurienkardinal Marc Ouellet, Präfekt der Bischofskongregation, und der australische Kurienkardinal George Pell, Präfekt des Wirtschaftssekretariates.

4.3 Der Synodenverlauf


Für Papst Franziskus war klar, dass er eine erneuerte Kirche nur auf den Weg bringen konnte, wenn es gelingen würde, einen dynamischen Prozess auszulösen. Die konzipierte Doppelbischofssynode hatte den Vorteil, dass die außerordentliche Bischofssynode 2014 als Versuchsballon starten konnte, dass dann ein Jahr Zeit für diskursive Auseinandersetzungen wäre und dass die ordentliche Bischofssynode im Oktober 2015 Beschlüsse fassen könnte, die in die Zukunft weisen. Der Pontifex wusste, dass er es mit heftigem Gegenwind zu tun haben würde. Das von ihm eingegangene Risiko war dabei begrenzt, weil eine Synode laut Statuten nur eine beratende Funktion hat.

Im Folgenden fokussiere ich auf die wiederverheiratet Geschiedenen, weil hier die ungerechten Folgen einer rigorosen Morallehre deutlich erkennbar sind – Warum bekommt ein Ehepartner, der verlassen wurde, keine neue Chance? – und weil sich an diesem Punkt Papst Franziskus und der Präfekt der Glaubenskongregation frontal gegenüberstehen.

Nach der ersten Synodenwoche 2014 wurde vom Generalrelator der Bischofssynode, Kardinal Peter Erdö (Budapest/Ungarn), eine Art Zwischenbericht verfasst, der – die wiederverheiratet Geschiedenen betreffend – eine Pattsituation zum Ausdruck bringt. „In Bezug auf die mögliche Teilnahme an den Sakramenten der Buße und Eucharistie argumentierten einige für die derzeitige Verfahrensweise aufgrund ihres theologischen Fundaments, andere sprachen sich für eine größere Öffnung unter ganz speziellen Bedingungen in Situationen aus, die nicht gelöst werden können, ohne neues Unrecht und Leid zu schaffen.“ (Nr. 47)

Die beiden kontroversen Positionen finden sich auch im abschließenden Text der außerordentlichen Bischofssynode. „Mehrere Synodenväter haben aufgrund der konstitutiven Beziehung zwischen der Teilnahme an der Eucharistie und der Gemeinschaft mit der Kirche und ihrer Lehre über die Unauflöslichkeit der Ehe auf der derzeitigen Regelung bestanden. Andere haben sich für eine nicht zu verallgemeinernde Zulassung an den Tisch der Eucharistie ausgesprochen – und zwar in einigen besonderen Situationen und unter genau festgelegten Voraussetzungen.“ (Nr. 52) Bei der Abstimmung am 18.10.2014 entfielen auf den Textabschnitt, dem obiges Zitat entnommen ist, 104 Ja-Stimmen und 74 Nein-Stimmen. Die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit wurde somit im Plenum verfehlt. Franziskus ordnete allerdings an, die Textpassage dennoch in das Schlussdokument aufzunehmen.

Am 23.06.2015 wurde im Vatikan das „Instrumentum laboris“, das Arbeitsdokument für die Synodenberatungen im Oktober 2015, vorgestellt. Dieses Dokument gibt zum einen Textpassagen aus der Schlussrelatio wieder – auch die von Franziskus unterstützte Nr. 52 – und zum anderen Textabschnitte, die auf den Ergebnissen der jüngsten Umfrage des Synodensekretariates basieren. Bezüglich der von mir aufgegriffenen Thematik taucht als neuer Argumentationszusammenhang auf, „dass die Aufmerksamkeit und Begleitung im Hinblick auf die zivil wiederverheiratet Geschiedenen auf deren immer bessere Integration in das Leben der christlichen Gemeinschaft ausgerichtet sein soll.“ Es müssten „die bisher praktizierten Formen des Ausschlusses im liturgisch-pastoralen, im erzieherischen und im karitativen Bereich überdacht werden. Insofern, als sich diese Gläubigen nicht außerhalb der Kirche befinden, wird vorgeschlagen, über die Angemessenheit dieser Ausschlüsse nachzudenken.“ (Nr. 121)

Die ordentliche Bischofssynode 2015 unterschied sich von der Vorgängerversammlung durch die Dauer (3 Wochen), durch den erweiterten Teilnehmerkreis (rund 270 Synodenväter) und durch eine veränderte Regie. Erstmalig gab es eine deutsche Sprachgruppe als einer von 13 Circuli minores. In dieser Sprachgruppe versammelten sich neben den Antipoden Kasper und Müller  auch theologische Schwergewichte wie Marx und Schönborn. Nachdem die drei Teile des Instrumentum laboris je einer Sitzungswoche zugeordnet waren, waren die Untergruppen bereits eingearbeitet, als es in der dritten Sitzungswoche explizit um die Problematik der „Wiederverheiratet Geschiedenen“ ging.

Was die deutsche Untergruppe anbetrifft, ging die Strategie der Tagungsregie - den Gegenspielern Kasper und Müller die direkte Auseinandersetzung abzuverlangen - voll auf. Die drei Zwischenberichte der deutschen Sprachgruppe wurden nicht nur wegen ihres theologischen Tiefgangs und ihrer Ergebnisse gelobt, sondern es erstaunte insbesondere, dass die Papiere immer einstimmig verabschiedet wurden. Spannend wurde es, als es auf die Endfassung des Schlussberichtes der Gesamtsynode zuging. Aus den Erfahrungen von 2014 hatte das Redaktionsteam gelernt, die Inhalte eher allgemein zu halten, um dadurch die Chance zu erhöhen, bei den einzelnen Textabschnitten eine Zwei-Drittel-Mehrheit zu erhalten. Außerdem sollte der Papst, sein nachsynodales Schreiben betreffend, nicht gebunden werden. Von dem italienischen Startheologen Bruno Forte erfuhr man im Rahmen eines Interviews, dass das Thema Homosexualität absichtlich zurückgestellt wurde, um die Synode nicht zu spalten.

Der Abschlussbericht der Bischofssynode an Papst Franziskus besteht aus 94 Textpassagen, die größtenteils eine sehr hohe Zustimmung bei den abstimmenden 265 Synodenvätern fanden. Nur drei Abschnitte bekamen mehr als 60 Gegenstimmen, nämlich die Nummern 84, 85 und 86, also alle Textabschnitte, die sich auf den Bereich der „Wiederverheiratet Geschiedenen“ beziehen. Am schlechtesten schnitt mit 178 Ja-Stimmen, 80 Nein-Stimmen und 7 Enthaltungen der Paragraph 85 ab. Hier könnte es sich lohnen, nach zukunftsweisenden Inhalten Ausschau zu halten. 
(DBK: Relatio Synodi, 24.10.2015)

Nach den Zwischenberichten des deutschsprachigen Zirkels überrascht es nicht unbedingt, dass der inhaltliche Kern der Textpassage in der Aussage besteht, dass die Tatsache, dass jemand in zweiter Ehe lebt, nicht notwendig den Ausschluss von der Kommunion nach sich ziehen muss. Nachdem der Text im Anschluss an traditionelle Lehraussagen argumentiert, wird es den Gegnern einer Relativierung eines verabsolutierten Moralgesetzes schwer gemacht, mit Nein zu stimmen. Es ist zwar nicht von einem Sakrament die Rede, aber die Aussage „Daher ist es auch bei Aufrechterhaltung einer allgemeinen Norm erforderlich, anzuerkennen, dass die Verantwortung hinsichtlich bestimmter Handlungen oder Entscheidungen nicht in allen Fällen gleich ist“ (Nr. 85) beinhaltet „die Möglichkeit einer volleren Teilnahme am Leben der Kirche.“ (Nr. 86) 
Was damit gemeint ist, erschließt sich, wenn man den Paragraphen 52 der Schlussrelatio von 2014 mit heranzieht, der die Zwei-Drittel-Mehrheit verfehlt hat. Hier wie im Abschnitt 85 des Schlussdokuments von 2015 wird auf die Nr. 1735 des Katechismus der katholischen Kirche Bezug genommen, der besagt, dass „die Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwortung für sie“ aufgrund verschiedener Faktoren „gemindert, ja sogar aufgehoben sein“ könnte. Was daraus folgt, benennt der Paragraph 52 von 2014 explizit: „Einem möglichen Zugang zu den Sakramenten müsste unter der Verantwortung des Diözesanbischofs ein Weg der Buße vorausgehen. Diese Frage gilt es aber noch zu vertiefen, wobei die Unterscheidung zwischen einem objektiven Zustand der Sünde und mildernden Umständen genau zu bedenken ist.“



5. Wie sind die Synodenergebnisse zu bewerten?


5.1 Der Kommentar von Roberto de Mattei


Nach dem Urteil des Historikers und Traditionalisten Roberto de Mattei ist das Abschlusspapier so ausgefallen, dass alle mehr oder weniger zufriedengestellt wurden. Die Konservativen freuen sich darüber, dass der Satz aus der Zwischenrelatio von 2014, der eine Wertschätzung von gleichgeschlechtlich Liebenden zum Ausdruck bringt, ersatzlos wegfällt. Dieser lautet: „Homosexuelle Menschen besitzen Gaben und Qualitäten, die sie der Christengemeinschaft schenken können.“ Außerdem würden sie es als Erfolg ansehen, dass „die Öffnung gegenüber den wiederverheirateten Geschiedenen weitgehend abgeschwächt werden konnte.“

Die Reformer haben erreicht, dass unter der Überschrift „Unterscheidung und Integration“ verschiedene Möglichkeiten und Wege des Zugehens auf „Getaufte, die geschieden und zivil wiederverheiratet sind,“ aufgezeigt werden. „Ihre Teilnahme kann in verschiedenen kirchlichen Diensten zum Ausdruck kommen: es ist daher zu unterscheiden, welche der verschiedenen derzeit praktizierten Formen des Ausschlusses im liturgischen, pastoralen, erzieherischen und institutionellen Bereich überwunden werden können. Sie dürfen sich nicht nur als nicht exkommuniziert fühlen, sondern können als lebendige Glieder der Kirche leben und reifen.“ (Nr. 84) An dieser Stelle fragt sich Roberto de Mattei: „Was anderes aber bedeutet ‚lebendige Glieder’ der Kirche, wenn nicht der Stand der Gnade und der Empfang der Heiligen Kommunion?“ (Kommentar von Roberto de Mattei, 27.10.2015)

Sein – für die Traditionalisten bitteres – Fazit lautet: „Die Relatio behauptet nicht das Recht der wiederverheirateten Geschiedenen, die Kommunion empfangen zu können (und damit das Recht zum Ehebruch). Sie leugnet aber faktisch das Recht der Kirche, öffentlich die Situation der wiederverheirateten Geschiedenen als Ehebruch zu bezeichnen, indem sie die Verantwortung für die Beurteilung dem Gewissen der einzelnen Hirten und sogar der wiederverheirateten Geschiedenen überlässt.“ (ebd.)

Damit bestätigt de Mattei das Gelingen des von Franziskus angestrebten Paradigmenwechsels. Die Kirche wandelt sich unter Franziskus von einer verurteilenden, die auf moralischem Gebiet gegenüber den Getauften Macht ausübt, hin zu einer barmherzigen Kirche, die sich im sogenannten Forum internum – das Gespräch mit dem Priester – fürsorglich mit dem einzelnen Gläubigen auf einen Weg der Begleitung und der Unterscheidung“ (Nr. 86) begibt.

5.2 Der Präfekt der Glaubenskongregation denkt um


Von der Ankündigung der Bischofssynode 2013 an bis zur ordentlichen Bischofskonferenz im Oktober 2015, hat sich der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Müller, häufig in der Öffentlichkeit zu Wort gemeldet und erwies sich dabei zuverlässig als Hüter der reinen Lehre, wie sie von seinem Vorvorgänger Joseph Ratzinger unter dem Titel „Zu einigen Einwänden gegen die kirchliche Lehre über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen“ ausgearbeitet und 2011 dem Kirchenvolk durch Neuveröffentlichung in Erinnerung gerufen wurde. Ratzinger weist in diesem Schreiben alle Argumente zurück, die sich für eine flexiblere Anwendung der kirchlichen Ehelehre aussprechen. Insbesondere schließt er aus, dass es aus Gewissensgründen Ausnahmen von der absolut gesetzten Norm geben könnte, gemäß der wiederverheiratet Geschiedene von der Kommunion ausgeschlossen sind.

Insofern war es durchaus überraschend, dass sich in dem am 14.10.2015 veröffentlichten zweiten Zwischenbericht der deutschen Sprachgruppe (DBK: Aktuelle Meldung, 14.10.2015 - Nr. 035) nicht nur zukunftsweisende Gedanken fanden, sondern dass diese auch von allen Gruppenmitgliedern – also auch von Kardinal Müller – abgesegnet waren. Die Gruppe arbeitete theologisch heraus, dass Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nicht als Gegensätze aufgefasst werden dürfen – sie fallen nämlich in Gott, der die Liebe ist, in eins -, und explizierte darüber hinaus, welche Konsequenzen dieses Ineinander von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit hat. „Eine einseitig deduktive Hermeneutik …, welche konkrete Situationen unter ein allgemeines Prinzip subsumiert,“ ist abzulehnen. Unter Rückgriff auf Thomas von Aquin und das Konzil von Trient wird damit ausgesagt, dass die Tatsache, dass jemand wiederverheiratet geschieden ist, nicht notwendig den Ausschluss von der Kommunion nach sich zieht.

Im wiederum einstimmig verabschiedeten dritten Zwischenbericht vom 21.10. 2015 (DBK: Aktuelle Meldung, 21.10.2015 - Nr. 039) bezieht sich die Gruppe auf das apostolische Schreiben „Familiaris consortio“ (1984) von Johannes Paul II. und die Aufforderung „Die Hirten mögen beherzigen, dass sie um der Liebe zur Wahrheit willen verpflichtet sind, die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden.“ (Nr. 84) Der Zirkel sieht die Möglichkeit, einen solchen Weg der Unterscheidung im Forum internum zu gehen. Das bedeutet, dass ein Betroffener im Gespräch mit dem Beichtvater seine objektive Situation reflektiert und gemeinsam in einer ehrlichen Prüfung des Gewissens geklärt wird, wie weit ein Zugang zu den Sakramenten möglich ist.

Bereits am 18.10.2015 äußerte sich der Präfekt der Glaubenskongregation öffentlich im Sinne dessen, was im germanischen Sprachzirkel erarbeitet worden war. Dem Magazin „Focus“ sagte er, dass den wiederverheirateten Geschiedenen zwar keine allgemeine Zulassung zur Kommunion gewährt werden könne, in gewissen Fällen könne es jedoch „eine Zulassung im Gewissensbereich geben.“
Damit ist Kardinal Müller auf die Linie von Papst Franziskus eingeschwenkt und wird dem gerecht, was er am 03.08.2015 im Interview mit katholisch.de äußerte: „Persönlich ist mir die Treue zum Papst mein Leben lang ein Herzensanliegen gewesen.“

5.3 Die Wieder-in-Kraft-Setzung des Gewissens


Im Textabschnitt 63 der Schlussrelatio findet sich eine Bezugnahme auf die veritable Gewissensdefinition des II. Vatikanums. „Der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.“ (GS, Nr. 16)
Damit ist gesagt, dass der Gläubige wesentliche Entscheidungen von seinem Gewissen her in seiner Verantwortung vor Gott zu treffen hat und sich nicht hinter vorgegebenen Normen oder Meinungen anderer verstecken kann.

1993 versuchten die oberrheinischen Bischöfe im Hinblick auf die „Teilnahme einzelner Wiederverheirateter Geschiedener an den Sakramenten“ einen Weg gangbar zu machen, der sowohl der Kirche wie auch den Betroffenen gerecht werden würde. Einerseits könne die Kirche wiederverheiratete Geschiedene nicht generell zur Eucharistie zulassen, andererseits wäre es die seelsorgerliche Aufgabe des Priesters, mit dem Gläubigen zusammen eine konkrete Situation zu klären und diesen auf dem Weg zu einer reifen Gewissensentscheidung zu begleiten.

In seinem, diesen Lösungsweg abweisenden Schreiben von 1994, argumentiert Joseph Ratzinger, dass es richtig sei, „dass das Urteil, ob die Voraussetzungen für einen Hinzutritt zur Eucharistie gegeben sind, vom richtig geformten Gewissen getroffen werden muss.“ (Nr. 8) Es ginge hier aber nicht nur um die unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Gott, sondern die Ehe habe immer auch einen kirchlichen und sozialen Kontext. Im Rahmen der Konzeption der oberrheinischen Kirchenprovinz ist dieser Zusammenhang dadurch berücksichtigt, dass ein Seelsorger als Mittler zwischen Privatsphäre und kirchlicher Öffentlichkeit tätig werden würde. Diese pastorale Lösung kommt für den Präfekten der Glaubenskongregation allerdings nicht in Frage, denn es bedürfe einer kirchlichen Vermittlung, die „auch die im Gewissen verbindlichen kanonischen Normen einschließt.“ (Nr. 8)

Joseph Ratzinger führt an dieser Stelle das Gewissen des Menschen als „lebendige(s) Wort, das im Heiligen Geist in den Herzen der Menschen wohnt“ (Zweiter deutschsprachiger Zwischenbericht) über in ein katholisches Über-Ich, das man analog zum Feud’schen Über-Ich sehen kann. Das katholische Über-Ich als moralische Kontrollinstanz hätte nicht nur die Normen der Eltern und die Wertvorstellungen der Gesellschaft verinnerlicht sondern insbesondere auch die Moralgesetze des römischen Lehramts. Die im Zusammenhang mit den wiederverheirateten Geschiedenen verbindliche Norm dekretiert der Präfekt der Glaubenskongregation als authentischer Lehrer im Jahr 1998: „Wenn die vorausgehende Ehe von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen gültig war, kann ihre neue Verbindung unter keinen Umständen als rechtmäßig betrachtet werden, daher ist ein Sakramentenempfang aus inneren Gründen nicht möglich. Das Gewissen des einzelnen ist ausnahmslos an diese Norm gebunden.“

Dieser Okkupation des Gewissens durch Joseph Ratzinger schließt sich Gerhard Ludwig Müller in seinem Beitrag im Osservatore Romano vom 23.10.2013 an. Das lehramtliche Schreiben trägt den Titel „Zur Unauflöslichkeit der Ehe und der Debatte um die zivil Wiederverheirateten und die Sakramente“ und erinnert die Gläubigen im Zusammenhang mit dem Kommunionempfang an deren „Pflicht, ihr Gewissen zu bilden und an der Wahrheit auszurichten. Dabei hören sie auch auf das Lehramt der Kirche, das ihnen hilft, nicht von der Wahrheit über das Gute des Menschen abzukommen, sondern, besonders in den schwierigeren Fragen, mit Sicherheit die Wahrheit zu erlangen und in ihr zu bleiben.“

Was die Sicherheit der lehramtlichen Wahrheit angeht, hat Kardinal Müller mittlerweile eine zentrale Wahrheit Benedikts hinter sich gelassen und vertritt jetzt die Auffassung, von der sich Kardinal Kasper über Jahrzehnte hinweg nicht hat abbringen lassen: In gewissen Fällen könne es „eine Zulassung im Gewissensbereich geben.“ (Müller im Focus) Die Basis dieses paradigmatischen Wandels ist die im Zweiten Zwischenbericht des Circulus germanicus gemeinsam formulierte Überzeugung, dass die grundlegende Offenbarungswahrheit die Barmherzigkeit Gottes ist. Sie erschließt uns den tiefsten Grund der Offenbarungswahrheiten, „da sie uns sagt, warum Gott sich in seinem Sohn selbst entäußert hat und weshalb Jesus Christus durch sein Wort und seine Sakramente bleibend zu unserem Heil in seiner Kirche gegenwärtig ist. Die Barmherzigkeit Gottes erschließt uns damit den Grund und das Ziel des gesamten Heilswerkes. Die Gerechtigkeit Gottes ist seine Barmherzigkeit, mit der er uns gerecht macht.“


6. Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter


Ab dem Zeitpunkt, zu dem bekannt wurde, dass Papst Franziskus Kardinal Kasper ausgewählt hatte, zum Auftakt der Familiensynode ein Grundsatzreferat zu halten, baute sich ein innerkirchlicher Richtungsstreit auf, der zu dem Bild der zwei Züge, die aufeinander zu rasen, führte. Inzwischen habe ich ein anderes Bild vor Augen: Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter.
Gebellt hatte zum Beispiel Kardinal Raymond Burke, der in einem Interview im März 2015 gesagt hatte, dass man homosexuelle Paare und wiederverheiratet Geschiedene, die ein rechtschaffenes und auf Treue basierendes Leben führen, vergleichen könnte mit Menschen, die jemand ermordet haben und gleichzeitig zu anderen Menschen nett seien.(eigene Übersetzung)
Es ließen sich noch andere infame Entgleisungen anführen, aber mit dem Abschluss der Synode hat sich der Wellengang beruhigt und Franziskus setzt den von ihm eingeschlagenen Kurs fort. Die Umsteuerung der Kirche in Richtung Synodalität hat begonnen, der Pontifex hat drei Wochen vor der ordentlichen römischen Synode das kirchliche Ehe-Annullierungsverfahren vereinfacht und beschleunigt, das Jahr der Barmherzigkeit ist eingeläutet. Auf ein wesentliches Reformvorhaben kam Franziskus in seiner Rede zum Abschluss der Bischofskonferenz zu sprechen. Der Synodenprozess hätte sichtbar gemacht, dass jenseits dogmatischer Lehrverkündigung „das, was einem Bischof eines Kontinentes als normal erscheint, sich für den Bischof eines anderen Kontinents als seltsam, beinahe wie ein Skandal herausstellen kann. … was für einige Gewissensfreiheit ist, kann für andere nur Verwirrung bedeuten.“  Daraus leitet sich ab, dass jeder allgemeine Grundsatz inkulturiert werden muss, also auf eine ganz bestimmte Kultur hin auszulegen ist. Das bedeutet in der Konsequenz, dass ein Teil der Entscheidungsverantwortung der römischen Kurie dezentralisiert und an regionale und kontinentale Bischofskonferenzen übergeben werden muss. In vielen Teilen der Welt sind wiederverheiratet Geschiedene kein Thema. Warum sollten die Lösungen nicht dort angestrebt werden, wo sie gebraucht werden?

Mit Franziskus bleibt es spannend in der katholischen Kirche, insofern sehen wir dem für das erste Halbjahr 2016 angekündigten nachsynodalen Schreiben mit großem Interesse entgegen.