Teil II: Die Thematik der Homosexualität in der katholischen Kirche der Gegenwart
Einleitung
„Wenn jemand homosexuell ist und Gott sucht und guten Willens ist, wer bin ich, über ihn zu richten?“ Diesen Satz äußerte Papst Franziskus im Juli 2013 und löste damit innerhalb der katholischen Kirche kontroverse Reaktionen aus.
In der Vorbereitungsphase der außerordentlichen Bischofskonferenz 2014 in Rom ging der Pontifex neue Wege, indem er Fragebögen an die Bischofskonferenzen verschickte. Inhaltlich benennt das - aus der Auswertung der Befragung entstandene -Vorbereitungsdokument eine Reihe von zeitgenössischen Problematiken, zu denen auch gehören „Verbindungen von Personen desselben Geschlechts, denen nicht selten die Adoption von Kindern gewährt wird.“
(Bischofssynode, Vorbereitungsdokument 05.11.2013, I Abschnitt 3)
Resümiert man den Verlauf der Synode von 2014, so spiegelt der – nach der ersten Diskussionswoche erstellte – Zwischenbericht einen auf homosexuelle Menschen zugehenden Impetus wider, der aber in der zweiten Woche wieder einkassiert wird. Im Schlussbericht findet sich nichts mehr, was über den Status quo des Katechismus hinausgehen würde.
Während sich das Bischofskollegium der Weltkirche – gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen betreffend - noch nicht zu einer Neuorientierung in der Lage sieht, fordert das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) als oberstes deutsches Laiengremium in einer Erklärung vom 09.05.2015 zur diesjährigen Bischofssynode „eine Weiterentwicklung von liturgischen Formen, insbesondere Segnungen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, neuer Partnerschaften Geschiedener und für wichtige Weichenstellungen im Familienleben.“
(Erklärung des
Zentralkomitees der deutschen Katholiken anlässlich der XIV. Ordentlichen
Generalversammlung der Bischofssynode im Vatikan 2015)
Den Forderungen des ZdK widerspricht der Passauer Bischof Stefan Oster auf Facebook diametral, indem er auf die überkommene katholische Morallehre verweist: „Die Kirche glaubt nämlich aufgrund der ihr geschenkten Offenbarung, dass ausgelebte sexuelle Praxis ihren genuinen und letztlich einzig legitimen Ort in einer Ehe zwischen genau einem Mann und einer Frau hat, die beide offen sind für die Weitergabe des Lebens und die bis zum Tod eines der Partner einen unauflöslichen Bund geschlossen haben.“
(facebook, Bischof Stefan Oster, 11.Mai)
Diese von Bischof Oster auf den Punkt gebrachte Lehre der katholischen Kirche reflektiere und kritisiere ich in meinem Beitrag aus zeitgenössischer Warte, wobei sich zeigt, dass es im Rahmen der traditionellen katholischen Morallehre keinen Spielraum für eine Neubewertung von Homosexualität gibt.
1. Zur Unzeitgemäßheit der katholischen Morallehre
Eine Morallehre macht Aussagen darüber, was gut und was böse ist. Was die moralischen Auffassungen hinsichtlich des menschlichen Zusammenlebens anbetrifft, stimmen staatliche und kirchliche Normen in vielen Bereichen überein, nämlich beispielsweise, dass man den anderen seines Eigentums nicht berauben oder anderen keine Gewalt antun darf. Wo allerdings gesellschaftliche und katholische Moralvorstellungen zunehmend divergieren, das ist auf dem Feld der Sexualmoral.
Im Zentrum der katholischen Morallehre stehen Ehe und Familie. Die im 12. Jahrhundert von Papst Alexander III. begründete katholische Ehelehre hat zwei Wurzeln, nämlich das germanische Recht, nach dem die Ehe durch die genitale Vereinigung von Mann und Frau zustande kommt, und das römische Recht, wonach die Ehe durch den übereinstimmenden Willen von Mann und Frau, also durch einen Vertrag, gestiftet wird. (vgl. meinen Blogbeitrag vom 29.11.2014)
Es kommen damit zwei anthropologische Sinnbezüge zur Geltung: Die Bindung von Sexualität in der Ehe schafft einen Rahmen für das gedeihliche Aufwachsen von Kindern in der ehebasierten Familie und die Ehe als Vertrag stellt prinzipiell Mann und Frau gleich und macht eine Ehe von zeitweiligen Gefühlslagen unabhängig. In einer Zeit, in der Ehe und Familie in eine theozentrische und feudalistische Gesellschaftsordnung eingebunden waren, gab es so etwas wie selbstbestimmte Sexualität allenfalls in der Sphäre der Herrschenden. Erst auf dem Boden der Aufklärung, die nach Kant der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ist, konnte die Vernunftehe durch die Idee der Liebesehe relativiert werden. Das katholische Ehemodell, das Sexualität und Fortpflanzung zusammenbindet, korrespondierte über einen langen Zeitraum mit der gesellschaftlichen Entwicklung, denn die Gesellschaft war allein aufgrund der hohen Kindersterblichkeit auf eine hohe Geburtenrate angewiesen.
Katholische Sexualmoral nimmt eine schlichte Gut-Böse-Gegenüberstellung vor. Gut ist nur „naturgemäßes“ – womit insbesondere fortpflanzungsorientiert gemeint ist - Sexualverhalten innerhalb der Ehe. Sexualität außerhalb der Ehe – in welcher Form auch immer – ist grundsätzlich böse. In Zeiten, in denen Frauen mit 15 Jahren heirateten oder verheiratet wurden, viele Kinder bekamen und nicht sehr alt wurden, machte die nachwuchsorientierte Familienphase den größten Teil der Lebensspanne aus. In diesen Zeiten war die katholische Morallehre für die meisten eine Selbstverständlichkeit und wurde nicht angezweifelt.
Mittlerweile beschränkt sich der kinderzentrierte Lebensabschnitt auf nur ein Drittel bis ein Viertel der eigenen Lebenszeit. Dass die starre, angeblich zeitlose katholische Morallehre ausgedient hat, lässt sich allein an zwei Punkten aufweisen:
- Zwischen Geschlechtsreife und dem Eingehen einer verbindlichen Lebenspartnerschaft gibt es in modernen Gesellschaften eine Jugend- und Adoleszenzphase, in der die Masturbation eine wichtige Rolle spielt.
- Wenn ein katholisches Ehepaar, nachdem mehrere Kinder geboren wurden, die reproduktive Familienphase beendet, kann die Sterilisation das Mittel der Wahl sein, um die Ehe weiterhin auch als sexuelle Beziehung zu leben.
Wer masturbiert oder sich sterilisieren lässt, verstösst gegen die lehramtliche Sexualmoral, was nicht das Verhalten der Katholiken sondern die derzeit gültige katholische Morallehre disqualifiziert.
2. Die katholische Morallehre als „Heilige Kuh“
Papst Franziskus hat für 2014 und 2015 eine zweiteilige Synode zum Thema Familienpastoral in Rom einberufen. Allein die Herangehensweise zeugt von einem Aufbruchsimpetus. Der Pontifex hat durch mittlerweile zwei weltweite Fragebogenaktionen den Versuch unternommen, den sensus fidelium – den Gaubenssinn des ganzen Gottesvolkes – im Hinblick auf die Thematik Sexualität – Ehe - Familie zu eruieren. Außerdem waren die Bischöfe aufgefordert – was manche in den Jahrzehnten zuvor verlernt hatten – sich freimütig zu äußern. Allerdings drängt sich mir als Beobachter der Eindruck auf, dass die nicht explizite Grundprämisse des gesamten Unterfangens lautet: „Der Kern der katholischen Morallehre darf nicht angetastet werden.“ So äußerte sich Reinhard Kardinal Marx – der innerhalb des Bischofskollegiums als Progressist gilt – am 30.08.2015 in einem Phoenix-Kamingespräch dahingehend, dass man an der Glaubenslehre nicht rütteln müsse. „Die Grundsätze unserer Glaubenslehre zu Ehe und Familie wird ja von den meisten Menschen, die jetzt katholisch sein wollen, geteilt.“
Das ist zum einen Teil richtig, denn die sakramentale Ehe als Grundlegung und Stabilitätsgarant der katholischen Familie ist ein nach wie vor hoch bewertetes Gut. Aber das von der katholischen Kirche als Plan Gottes postulierte Junktim von Sexualität und Fortpflanzung ist mittlerweile so realitätsfern, dass sich damit innerhalb der modernen Industriestaaten nur noch eine kleine Minderheit von Katholiken identifizieren kann. Außerdem stellt sich die dringliche Frage, ob aus dem Schöpfungsmythos des Buches Genesis und einigen Stellen des Alten Testamentes legitim abgeleitet werden kann, dass innerhalb gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften gelebte Sexualität gegen die göttliche Ordnung verstößt.
Die Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften führt zu einem Werte- und Traditionswandel und fordert insbesondere die Religionen heraus, ihre Glaubensaussagen auf aktuelle Lebenslagen hin zu interpretieren.
Verlassen wir kurz unseren Kulturkreis und blicken auf die heiligen Kühe Indiens. Das domestizierte Rind war in Ackerbaukulturen schon von alters her aufs engste mit dem menschlichen Leben verknüpft. Kühe hatten eine lebenserhaltende Funktion, indem sie nicht nur Ernährung und Bekleidung, sondern auch wertvollen Dünger, Behausung, Medizin und Arbeitskraft lieferten. 1,2 Milliarden Hindus in Indien sehen die Kuh als Mutter allen Lebens und verehren sie als heiliges Wesen, das nicht getötet werden darf. Während die Kuh in traditionell geprägten Landstrichen Indiens nach wie vor wirtschaftliche Bedeutung als Arbeitstier und Gabengeberin hat und in religiöser Perspektive unantastbar ist, wird die Kuh von vielen modernen Großstädtern als verkehrsbehindernder Anachronismus wahrgenommen.
So wie es Indien landesintern mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungsniveaus zu tun hat, so steht die katholische Kirche vor der Herausforderung, trotz weltweiter Ungleichzeitigkeit einen gemeinsamen moraltheologischen Nenner zu finden. Im Hinblick auf die Synode heißt das für Kardinal Marx, dass Beschlüsse von einer deutlichen Mehrheit der Teilnehmer getragen werden müssen.
In Westeuropa und Nordamerika gab es in den letzten 50 Jahren im Bereich von Sexualität und Familie rasante gesellschaftliche Veränderungen. In einigen unvollständigen Stichworten: Antibabypille, sexuelle Revolution, feministische Bewegung, Zusammenleben ohne Trauschein, Ehescheidung nach dem Zerrüttungsprinzip, Ablösung des Familienmodells mit dem Vater als Ernährer und der Mutter als Hausfrau, plurale Familienformen, Infragestellung der heteronormativen bipolaren Geschlechtlichkeit, Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften … Die Bischöfe, die sich inmitten einer solchen gesellschaftlichen Gemengelage befinden, sind einerseits nur zum Teil bereit und in der Lage, sich diesen Herausforderungen zu stellen, und sind andererseits innerhalb der katholischen Weltkirche zahlenmäßig in der Minderheit.
Insofern ist es nachvollziehbar, wenn veränderungsoffene Bischöfe einen Weg einschlagen, der darauf abzielt, die unbarmherzigen Folgen katholischer Morallehre abzufedern und die rigide Entgegensetzung von Tugend und Sünde, Keuschheit und Unzucht, Regularität und Irregularität zu relativieren. Ein solcher auf Integration ausgerichteter Ansatz vermag viel zu leisten, findet aber an der Thematik der Homosexualität seine Grenzen.
3. Homosexualität als Stachel im Fleisch der katholischen Morallehre
Die auf die pastoralen Herausforderungen des Bereichs Sexualität – Ehe - Familie fokussierte Bischofssynode beinhaltet die Chance eines Perspektivenwechsels.
Will man von einem Schwarz-Weiß-Schema weg kommen und der Divergenz von Morallehre und Lebenswirklichkeit entgegenwirken, so muss man die Hardlinerposition, die alles, was nicht der Norm der kirchlichen Lehre von Ehe und Familie entspricht moralisch verurteilt, überwinden. Das kann dadurch geschehen, dass man zunächst die in der Gesellschaft gelebten pluralen Formen von Partnerschaft und Familie zur Kenntnis nimmt und sodann zugesteht, dass auch diese von der kirchlichen Norm abweichenden Lebensgemeinschaften einen positiven Eigenwert haben, der wertzuschätzen ist.
Bereits am zweiten Synodentag 2014 wurde über das „Prinzip der Gradualität“ gesprochen, wonach Formen eheähnlichen Zusammenlebens als Etappen auf dem Weg zur sakramentalen Ehe angesehen werden können. Dabei griff die Synode auf zwei traditionelle Ansatzpunkte zurück:
1. Johannes Paul II. spricht in seinem apostolischen Schreiben Familiaris consortio von 1981 vom „Gesetz der Gradualität“ im Sinne eines Vollbringens des „sittlich Gute(n) auch in einem stufenweisen Wachsen“ im Verlauf des ehelichen Lebens. (Nr. 34) In Ausdehnung dieses Begriffes von Gradualität auf das Spektrum pluralisierter Partnerschaftsformen findet sich in der Zusammenfassung der Generaldebatte des 7. Oktobers der Satz:
„Am Ideal der Ehe gemessen 'unvollkommene' Lebensgemeinschaften sollen mit dem Respekt betrachtet werden, 'dass in ihnen Treue und Liebe und Elemente der Heiligung und Wahrheit vorhanden' seien.“
(Zit. nach: Dörnemann, 07.10.2014)
2. Ein zweiter Bezugspunkt ist die Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils Lumen gentium, wo es heißt, dass auch außerhalb des Gefüges der katholischen Kirche „vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind“. (Nr. 8) In einem Analogieschluss kann auch von eheähnlichen Gemeinschaftsformen wertschätzend gesagt werden, dass in ihnen Elemente der Heiligung und Wahrheit enthalten sind.
Angenommen, die Synode verständigt sich in diesem Herbst auf diese Betrachtungsweise, so blieben noch zwei Gruppierungen, die moraltheologisch beziehungsweise pastoral entlastet werden müssten: Die wiederverheiratet Geschiedenen und die gleichgeschlechtlich Liebenden.
Was die ersteren betrifft, ist schon jetzt deutlich, dass es zu neuen Lösungen kommen wird:
- Papst Franziskus hat bereits im Vorfeld der Synode ein starkes Zeichen gesetzt, indem er Walter Kardinal Kasper beauftragte, beim Konsistorium der Kardinäle im Februar 2014 eine Rede über das Evangelium der Familie zu halten. Jener Kardinal Kasper, der sich bereits im Jahr 1993 mit seinen oberrheinischen Amtskollegen Karl Lehmann und Oskar Saier für eine gemäßigte Öffnung im Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen eingesetzt hatte – was damals vom Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, brüsk zurückgewiesen wurde.
- Drei Wochen vor der ordentlichen römischen Synode hat der Pontifex das kirchliche Ehe-Annullierungsverfahren vereinfacht und beschleunigt. Wurden im Jahr 2013 weltweit rund 47.150 Ehen für nichtig erklärt, so wird diese Zahl sprunghaft anwachsen und viele vor dem Status „wiederverheiratet geschieden“ bewahren.
- Im Arbeitspapier für die Familiensynode findet sich ein Abschnitt, der mit „Der Bußweg“ überschrieben ist. Dort wird festgestellt, dass „es im Hinblick auf die zivil wiederverheirateten Geschiedenen, welche unwiderruflich in einer neuen Partnerschaft leben, bezüglich der Idee eines Prozesses der Versöhnung oder eines Bußweges unter der Autorität des Bischofs eine gewisse Übereinstimmung (gibt).“ (Nr. 123)
(Bischofssynode, Instrumentum laboris 2015)
Bleiben die gleichgeschlechtlich Liebenden. In der Enzyklika Veritatis splendor von 1993 behandelt Papst Johannes Paul II. grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre. Im Hinblick auf die menschliche Würde, die ja laut Grundgesetz unantastbar ist, nimmt der Pontifex Einschränkungen vor:
„Der geschärfte Sinn für die Würde und Einmaligkeit der menschlichen Person wie auch für die dem Weg des Gewissens gebührende Achtung stellt also sicher eine positive Errungenschaft der modernen Kultur dar. Diese an sich authentische Wahrnehmung hat vielfältige, mehr oder weniger angemessene Ausdrucksformen gefunden, von denen jedoch einige von der Wahrheit über den Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes abweichen und deshalb korrigiert bzw. im Lichte des Glaubens geläutert werden müssen.“ (Nr. 31)
(Ioannes Paulus PP. II, Veritatis
splendor, 06.08.1993)
Zu denen, die nach lehramtlicher Auffassung von der göttlichen Ordung abweichen, gehören natürlich insbesondere die Homosexuellen. So heißt es in dem Schreiben „Homosexualitas problema“ der Kongregation für die Glaubenslehre von 1986:
„Die spezifische Neigung der homosexuellen Person … begründet … eine mehr oder weniger starke Tendenz, die auf ein sittlich betrachtet schlechtes Verhalten ausgerichtet ist. Aus diesem Grunde muß die Neigung selbst als objektiv ungeordnet angesehen werden.“ (Nr. 3)
(Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen, 01.10.1986)
Wie die von Johannes Paul II. anvisierte Läuterung von Homosexuellen im Lichte des Glaubens auszusehen hat, steht im Katechismus unter der Nummer 2359:
„Homosexuelle Menschen sind zur Keuschheit gerufen. Durch die Tugenden der Selbstbeherrschung … können und sollen sie sich … entschieden der christlichen Vollkommenheit annähern.“
Spätestens seit Sigmund Freud weiß man um den zentralen Stellenwert von Sexualität für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung. In der Broschüre „Selbstbestimmte Sexualität als Menschenrecht“ schreibt Professor Joachim Walter: „Sexualität … als menschliche Lebensenergie hat … einen hohen anthropologischen Stellenwert. Dahinter steht das Bedürfnis, nicht allein sein zu wollen, sondern anderen beizuwohnen („beiwohnen" - ein alter Begriff für Sexualverkehr). Sexualität ist somit das Bedürfnis nach Geborgenheit und Zugehörigkeit, letztlich die Wurzel menschlichen Glücks und gelingenden Lebens.“
(Walter, J., in: Sexualaufklärung,
Verhütung und Familienplanung. BzgA, 2001, Ausgabe 2)
Die katholische Morallehre stellt Menschen mit homosexueller Orientierung auf eine Stufe mit Pädophilen, denen abzuverlangen ist, dass sie ihre Kinder-gefährdende Sexualität nicht ausleben. Es ist nicht verantwortbar, Homosexuelle auf Lebensentwürfe festzulegen, bei denen die sexuelle Dimension ausgeklammert ist, und dafür auch noch den menschenfreundlichen Gott, der alle seine Geschöpfe liebt, in Anspruch zu nehmen. Damit ist für mich klar, dass eine grundlegende Neuausrichtung der katholischen Morallehre unabdingbar ist.
4. Homosexualität im aktuellen katholischen Diskurs
Im Juli 2013 ließ ein Satz von Papst Franziskus die Welt aufhorchen: „Wenn jemand homosexuell ist und Gott sucht und guten Willens ist, wer bin ich, über ihn zu richten?“ Dieses erste Zeichen einer Enttabuisierung bestätigte sich bei der Sichtung des Fragebogens zur Familiensynode 2014. Dort wird unter anderem danach gefragt, welche pastorale Aufmerksamkeit gegenüber Menschen möglich ist, die sich für eine gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft entschieden haben. (Bischofssynode 05.11.2013, III 5c)
Am 03.02.2014 legt die Deutsche Bischofskonferenz eine Zusammenfassung der Antworten auf diese Frage aus den deutschen (Erz-)Diözesen vor:
Es gibt „bei den deutschen Katholiken eine deutliche Tendenz, die rechtliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und deren Gleichbehandlung gegenüber der Ehe als ein Gebot der Gerechtigkeit zu betrachten. Die Öffnung der Ehe als solcher für gleichgeschlechtliche Paare wird hingegen überwiegend abgelehnt. Nicht wenige halten es jedoch für sinnvoll und positiv, auch gleichgeschlechtlichen Paaren einen Ritus der Segnung anzubieten.“
(Pressemitteilungen der
deutschen Bischofskonferenz, 03.02.2014, S. 13)
Im Instrumentum laboris vom 26.06.2014 befassen sich die Abschnitte 110 bis 120 mit den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. (Bischofssynode, Instrumentum laboris, Vatikanstadt 2014)
Unsere Ausgangsfrage spiegelt sich in den dort verarbeiteten Antworten der Bischofskonferenzen so wider:
- "Von Seiten der Bischofskonferenzen gibt es ein breites Zeugnis bezüglich der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen der Lehre der Kirche über die Familie und einer respektvollen, nicht verurteilenden Haltung gegenüber den Menschen, die in solchen Gemeinschaften leben.“ (Nr. 113)
- „Einige Antworten und Bemerkungen bringen die Sorge zum Ausdruck, dass die Aufnahme der Menschen, die in diesen Gemeinschaften leben, in das kirchliche Leben als eine Anerkennung ihrer Partnerschaften verstanden werden könnte.“ (Nr. 115)
- „Viele Antworten und Bemerkungen fordern eine theologische Bewertung im Dialog mit den Humanwissenschaften, um eine differenziertere Sicht des Phänomens der Homosexualität entwickeln zu können.“ (Nr. 117)
- „Die große Herausforderung wird darin bestehen, eine Pastoral zu entwickeln, der es gelingt, das rechte Gleichgewicht zwischen der barmherzigen Annahme der Menschen und ihrer schrittweisen Begleitung hin zur authentischen menschlichen und christlichen Reife zu wahren.“ (Nr. 118)
Nach der ersten Synodenwoche wurde am 13.10.2014 von Kardinal Peter Erdö eine Zwischenrelatio vorgelegt, die – bedenkt man die von Skepsis geprägte Ausgangslage - zwei bemerkenswerte Sätze zu unserer Thematik enthält. Unter der Überschrift Homosexuelle Menschen aufnehmen heißt es:
- „Homosexuelle Menschen besitzen Gaben und Qualitäten, die sie der Christengemeinschaft schenken können: Können wir diese Menschen aufnehmen, indem wir ihnen einen Raum der Brüderlichkeit in unseren Gemeinschaften zusichern?“ (Nr. 50) und
- „Ohne die moralischen Probleme im Zusammenhang mit homosexuellen Verbindungen zu leugnen, nehmen wir zur Kenntnis, dass es Fälle gibt, in denen die gegenseitige Unterstützung bis hin zur Aufopferung eine wertvolle Stütze im Leben der Partner ist.“ (Nr. 52)
In der zweiten Synodenwoche arbeiteten zehn, nach dem Kriterium der Sprachzugehörigkeit gebildete Gruppen parallel. „Als Moderatoren dieser ‚Circoli minori’ besaßen mehrere Wortführer der Konservativen in dieser Phase eine starke Stellung, die sie dazu nutzten, die kritischen Erkenntnisse aus dem Instrumentum laboris und die Fortschritte der Zwischenrelatio wieder rückgängig zu machen.“ (Brinkschröder, Juni 2015)
Der auf zwei Abschnitte reduzierte Text der Schlussrelatio geht nicht nur über das, was im Katechismus zu lesen ist, nicht hinaus, sondern verschiebt zudem die Perspektive weg von den homosexuellen Menschen hin zu deren Familien:
„Einige Familien machen die Erfahrung, dass in ihrer Mitte Menschen mit homosexueller Orientierung leben. Diesbezüglich hat man sich gefragt, welche pastorale Aufmerksamkeit in diesen Fällen angemessen ist, indem man sich auf das bezog, was die Kirche lehrt: >Es gibt keinerlei Fundament dafür, zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinn.<“
(DBK Relatio Synodi. Offizielle Übersetzung 18.10.2014, Nr. 50)
Fazit:
Die positiven Ansätze der Zwischenrelatio sind gestrichen und der Perspektivenwechsel erlaubt es den Bischöfen, ihre pastorale Aufmerksamkeit allein auf die Familien, denen homosexuell orientierte Menschen entstammen, zu richten.
Am 19.12.2014 hat der Vatikan ein vorbereitendes Dokument (Lineamenta) für die Bischofssynode 2015 veröffentlicht. Hier ist nicht nur an Stelle von den homosexuellen Menschen selbst von deren Familien die Rede, es wird zudem von ‚homosexueller Tendenz’ gesprochen. Diese Ausdrucksweise impliziert, dass – anders als bei ‚homosexueller Orientierung’ – man von einer Neigung oder Tendenz willentlich Abstand nehmen oder sich therapeutisch behandeln lassen könnte.
„Wie richtet die christliche Gemeinschaft ihre pastorale Aufmerksamkeit auf Familien, in denen Menschen mit homosexuellen Tendenzen leben? … Wie kann man ihnen die Erfordernisse des Willens Gottes in ihrer Situation deutlich machen?“ (Nr. 40)
(Deutsche Bischofskonferenz, Lineamenta, 09.12.2014)
An dieser Stelle kann ich nur dagegen protestieren, dass für die lehramtliche Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen auch noch der bedingungslos liebende Gott, an den wir glauben, herhalten muss.
Erfreulicherweise vertritt die Deutsche Bischofskonferenz – so wie die Mehrheit der Gläubigen in Deutschland - eine andere Position. Unter der Überschrift Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute nimmt das Gremium am 16.04.2015 zu den Fragen der Lineamenta Stellung:
„Die meisten Katholiken akzeptieren homosexuelle Beziehungen, wenn die Partner Werte wie Liebe, Treue, gegenseitige Verantwortung und Verlässlichkeit leben, ohne deshalb homosexuelle Partnerschaften mit der Ehe gleichzusetzen. Es geht um eine Würdigung bei gleichzeitiger Betonung der Verschiedenheit. Einige Stellungnahmen sprechen sich auch für eine – von der Eheschließung unterschiedene – Segnung dieser Partnerschaften aus. Eine homosexuelle Personen akzeptierende Pastoral erfordert eine Weiterentwicklung der kirchlichen Sexualmoral, die neuere humanwissenschaftliche, anthropologische, exegetische und moraltheologische Erkenntnisse aufnimmt.“
(DBK: Die Berufung und
Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute.
Antwort der Deutschen
Bischofskonferenz auf die Fragen im Hinblick auf die Rezeption und Vertiefung der
Relatio Synodi im Vorbereitungsdokument. 16.04.2015)
Das neueste Dokument im Vorfeld der Bischofssynode 2015 ist das Instrumentum laboris vom 23.06.2015. Die Aussagen dort hinsichtlich der Thematik der Homosexualität entsprechen denen der Schlussrelatio und den Lineamenta. Bei aller Skepsis hinsichtlich eines Fortschrittes bei der Bewertung von Homosexualität auf der Bischofssynode 2015 ist die Nr. 131 so formuliert, dass etwas Hoffnung aufkeimen kann. Die problematische Begrifflichkeit ‚homosexuelle Tendenzen’ interpretiere ich in diesem Kontext eher als sprachliches Synonym für die vorausgehende Bezeichnung ‚homosexuelle Orientierung’.
„Es wird bekräftigt, dass jeder Mensch, unabhängig von der eigenen sexuellen Orientierung, in seiner Würde geachtet und sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft mit Sensibilität und Takt aufgenommen wird. Es wäre wünschenswert, wenn die diözesanen Pastoralpläne der Begleitung der Familien, in denen Menschen mit homosexuellen Tendenzen leben, und diesen Menschen selbst eine besondere Aufmerksamkeit schenken würden.“ (Nr. 131)
(Instrumentum laboris, Vatikanstadt 2015)
Schluss: Warum tut sich die katholische Kirche mit der Homosexualität so schwer?
Für die katholische Kirche war es schon schwer genug, mit der Sexualität überhaupt fertig zu werden. Sexuelle Lust wurde von Augustinus als Folge des Sündenfalls gesehen und war insofern nur dann zu rechtfertigen, wenn sie für den eigentlichen Zweck des sexuellen Verkehrs von Mann und Frau, nämlich die Fortpflanzung, in Kauf genommen wurde. Von diesem Ausgangspunkt aus entstand eine bis heute wirkmächtige Unterscheidung: Sexuelles Handeln, das der Zeugung von Kindern dient, ist natürlich, alle anderen sexuellen Verhaltensweisen fallen unter das Verdikt der Widernatürlichkeit. Als Verstoß gegen Gottes natürliche Ordnung sind sie schwere Sünde. Der Katechismus von 1997 verzichtet nicht auf den Hinweis, dass die Homosexualität gemäß der katechetischen Tradition zu den himmelschreienden Sünden gehört.
Würde sich das katholische Lehramt der Stellungnahme der deutschen Bischofskonferenz vom 16.04.2015 anschließen und bei der Auseinandersetzung mit der Thematik der Homosexualität „neuere humanwissenschaftliche, anthropologische, exegetische und moraltheologische Erkenntnisse (aufnehmen)“, so könnte sich ergeben, dass Homosexualität in heutiger Sicht „als normale, nicht-krankhafte Variante menschlicher Sexualität betrachtet (wird).“ (Müller, 2014, S.19) Das hätte zur Folge, dass das Lehramt von der Stigmatisierung von Homosexualität als widernatürlich Abstand nehmen müsste und die traditionelle katholische Morallehre, die auf der Grundunterscheidung von natürlich und widernatürlich aufbaut, wäre am Ende.
Zum Zweiten ist für die katholische Kirche ein offener Umgang mit dem Thema der Homosexualität insbesondere deshalb schwierig, weil es in den Reihen der Kleriker nicht wenige Homosexuelle gibt und diese Tatsache weitgehend tabuisiert ist. Der Jesuitenpater Klaus Mertes - dem das Verdienst zukommt, im Jahr 2010 den Missbrauchsskadal in der katholischen Kirche Deutschlands ins Rollen gebracht zu haben - verweist auf einen Artikel des Pastoraltheologen Hanspeter Heinz von 1994, in dem dieser von 20 Prozent Homosexuelle im katholischen Klerus sprach. Mertes selbst geht von einem höheren Anteil aus (vgl. Mertes 2013, S. 133). Die genannte Größenordnung bestätigt der katholische Theologe, Psychologe und Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach, Wunibald Müller, der als Seelsorger von Seelsorgern intime Einblicke hat. (Müller 2014, S. 101) Das bedeutet, dass der Anteil von Homosexuellen in der katholischen Kirche vier Mal so hoch ist wie in der Gesamtbevölkerung. Warum das so ist, lässt sich in dem Buch „Der heilige Schein“ (2011) nachlesen, das der Theologe David Berger nach seinem Outing geschrieben hat.
Papst Benedikt hat die Homosexualität als innerkirchliches Problem über eine Instruktion in den Griff zu nehmen versucht, die er 2005 approbiert hat. Dort heißt es, dass die Kirche „jene nicht für das Priesterseminar und zu den heiligen Weihen zulassen kann, die Homosexualität praktizieren, tiefsitzende homosexuelle Tendenzen haben oder eine sogenannte homosexuelle Kultur unterstützen.“
(Kongregation für das katholische Bischofswesen: Instruktion über Kriterien zur Berufungsklärung von Personen mit homosexuellen Tendenzen im Hinblick auf ihre Zulassung für das Priesteramt und zu den heiligen Weihen. 04.11.2005)
Er führt damit die von der kirchlichen Lehre über die Homosexualität vorgenommene Unterscheidung von homosexuellen Handlungen und homosexuellen Tendenzen ad absurdum. Denn ein homosexuell orientierter Priesteramtsanwärter hätte ja die Absicht, zölibatär zu leben und würde auf homosexuelle Handlungen verzichten.
Die Homophobie des Lehramtes führt nicht nur zur Diskriminierung von homosexuellen Priesteramtsanwärtern, sondern treibt darüber hinaus alle homosexuellen Kleriker und Ordensleute in die Unehrlichkeit und Sprachlosigkeit. Dieses Verstummen bleibt nicht ohne Folgen für die heterosexuellen Mitbrüder und Mitschwestern, denn diese werden ihrerseits das Thema Sexualität tabuisieren, um nicht die Homosexuellen unter ihnen zu desavouieren. (vgl. Mertes 2013, S. 138) Die Katholische Kirche ist bei dem Thema Homosexualität aufgefordert, zunächst einmal vor ihrer eigenen Tür zu kehren.
Quellen
Berger, David: Der heilige Schein. Als schwuler Theologe in der katholischen Kirche. 2011
Bischofssynode 05.11.2013 Vorbereitungsdokument
Bischofssynode 26.06.2014 Instrumentum laboris, B Hinsichtlich der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften
Bischofssynode 19.12.2014 Lineamenta
Bischofssynode 23.06.2015 Instrumentum laboris
Brinkschröder Gleichgeschlechtliche Partnerschaften
DBK 03.02.2014 Zusammenfassung der Antworten aus den deutschen (Erz-)Diözesen auf die Fragen im Vorbereitungsdokument für die III. Außerordentliche Vollversammlung der Bischofssynode 2014
DBK 16.04.2015 Antwort der Deutschen Bischofskonferenz auf die Fragen im Hinblick auf die Rezeption und Vertiefung der Relatio Synodi im Vorbereitungsdokument
Dörnemann, Holger Blog zur Familiensynode
Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 22.11.1981
Johannes Paul II. Enzyklika Veritatis splendor, 06.08.1993
Kongregation für die Glaubenslehre Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen, 01.10.1986
Dörnemann, Holger Blog zur Familiensynode
Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 22.11.1981
Johannes Paul II. Enzyklika Veritatis splendor, 06.08.1993
Kongregation für die Glaubenslehre Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen, 01.10.1986
Mertes, Klaus: Verlorenes Vertrauen. Katholisch sein in der Krise. 2013
Müller, Wunibald: Größer als alles aber ist die Liebe. Für einen ganzheitlichen Blick auf Homosexualität. 2014
Oster, Stefan Kritik an ZdK-Erklärung
Schlussrelatio 18.10.2014 Relatio Synodi der Dritten Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode, S. 176 - 182
Walter, Joachim Selbstbestimmte Sexualität als Menschenrecht
ZdK 09.05.2015 Erklärung anlässlich der XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode im Vatikan 2015
Zwischenrelatio 13.10.2014 Relatio post disceptationem von Kardinal Peter Erdö zur Dritten Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode, S.117 - 140
Oster, Stefan Kritik an ZdK-Erklärung
Schlussrelatio 18.10.2014 Relatio Synodi der Dritten Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode, S. 176 - 182
Walter, Joachim Selbstbestimmte Sexualität als Menschenrecht
ZdK 09.05.2015 Erklärung anlässlich der XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode im Vatikan 2015
Zwischenrelatio 13.10.2014 Relatio post disceptationem von Kardinal Peter Erdö zur Dritten Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode, S.117 - 140