Samstag, 27. September 2014

Katholische Morallehre im Fokus. Wird die Bischofssynode 2014/15 zur Familienpastoral auf der Spur des II. Vatikanums wandeln?

Papst Fanziskus hat eine Bischofssynode zu den Themen Ehe, Familie und Sexualität einberufen. Im Vorfeld wurden weltweit Fragebögen verschickt und ein Konsistorium (sc. Vollversammlung der Kardinäle) abgehalten. Ende Juni 2014 veröffentlichte der Vatikan das „Instrumentum laboris“ (sc. Arbeitspapier), in das die Fragebogenergebnisse eingearbeitet sind. Das Vorgehen des Papstes hat traditionalistische Kreise veranlasst, diffamierend von einem „Dritten Konzil“ zu sprechen. Ins Positive gewendet könnte die Synode zu einem Forum der Auseinandersetzung werden, das die festgefahrene katholische Morallehre in Bewegung bringt und - vergleichbar mit dem II. Vatikanum - zu einer Aufbruchsituation führt.


Die herausgeforderte Bischofssynode


Im September 2013 äußerte Papst Franziskus gegenüber der Tageszeitung „La Repubblika“, dass er den Impetus des II. Vatikanums in Richtung Zukunft und moderne Kultur wieder aufnehmen wolle, und zwar in dem Bewusstsein, dass das Ökumene und Glaubensdialog bedeute. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon die von ihm geplante und am 08.10.2013 angekündigte Bischofssynode zum Thema Familie vor Augen. Die zweistufig angelegte Versammlung beginnt im Oktober 2014 mit der fragebogenbasierten Bestandsaufnahme und wird den Bischöfen die Gelegenheit zu Statements und Vorschlägen geben. Ein Jahr später sollen dann im Rahmen einer ordentlichen Bischofssynode Beschlüsse hinsichtlich des Bereichs Familienpastoral gefasst werden. Zur Vorbereitung der Synode wurde am 26.06.2014 ein vom Generalsekretariat der Synode zusammen mit dem Rat des Sekretariates erarbeitetes umfangreiches Grundlagenpapier – das sogenannte „Instrumentum laboris“ – der Öffentlichkeit vorgelegt.

Im ersten Abschnitt des Vorworts der Arbeitsgrundlage wird allgemein von einer Krise der Gegenwart gesprochen, die für die Evangelisierung der Familie, die ja im Zentrum von Gesellschaft und Kirche steht, eine Herausforderung wäre. Am Beginn des zweiten Abschnitts steht eine programmatische Aussage:

„Im Bewusstsein dessen, dass die «apostolische Überlieferung in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt kennt» (DV 8) ist die Außerordentliche Generalversammlung der Bischofssynode zum Thema: Die pastoralen Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung dazu aufgerufen, über den Weg nachzudenken, den es zu gehen gilt, wenn allen Menschen die Wahrheit der ehelichen Liebe und der Familie verkündet und auf vielfache Herausforderungen geantwortet werden soll (vgl. EG 66).“

Sucht man den zitierten Satz (DV8) in der Konstitution Dei Verbi  auf, so findet man am Ende des entsprechenden Abschnitts ein bemerkenswert prozessuales Wahrheitskonzept:
 „Die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen.“
Das impliziert aus meiner Sicht, dass die katholische Kirche zum Zeitpunkt einer konkreten geschichtlichen Ausformung in Rechnung stellen muss, dass das, was sie als Wahrheit erkannt hat, möglicherweise nur eine vorläufige, zeitbedingte Wahrheit ist und dass es eine nicht aufhebbare Differenz zwischen der systematisch defizienten Wahrheit der irdischen Kirche Jesu Christi und der Fülle der göttlichen Wahrheit gibt.

Das Auseinanderdriften von kirchlicher Moral und gesellschaftlichem Ethos


Wenn man die Metapher der Wegsuche beim Wort nimmt – … ist die Bischofssynode „dazu aufgerufen, über den Weg nachzudenken, den es zu gehen gilt“ -, so gibt es auch Sackgassen, Umwege und Irrwege. Von daher ist der reklamierte Fortschritt in der Kirche kein linearer, was bereits eine summarische Durchsicht der Kirchengeschichte erkennen lässt.
Die Problemstellung, der sich die Gegenwartskirche gegenüber sieht, kann man vielleicht so auf den Punkt bringen: Während die katholische Morallehre statisch und affirmativ am Althergebrachten festhält, reagiert die staatliche Gesetzgebung auf gesellschaftlichen Wandel. Dieser vollzieht sich rapide und tiefgreifend, was besonders augenfällig wird, wenn man das veränderte Verständnis von Familie in den Blick nimmt. Traditionell katholisch besteht Familie aus Mann und Frau, die sich im ehelichen Sakrament verbunden haben, und deren Kindern. Empirisch betrachtet hat sich das Spektrum von Familienformen in den Industriestaaten deutlich ausgeweitet. Viele Kinder werden unehelich geboren, es gibt Eineltern-Familien, Patchwork-, Fortsetzungs- und Regenbogenfamilien. Kinder, die von Trennung und Scheidung ihrer Eltern betroffen sind, wechseln zwischen zwei Familien hin und her. Menschen, die geschieden sind, unternehmen einen zweiten Anlauf in Richtung Ehe.

Mit den gesellschaftlich ausdifferenzierten Familienkonstellationen geht einher eine zunehmende Divergenz von katholischer Moral und gesellschaftlichem Ethos mit der Folge, dass die Diskrepanzen so groß werden, dass sie von den meisten Gläubigen lebenspraktisch nicht mehr integrativ bewältigt werden können. Im Ergebnis bildet sich als kognitive Lösung eine Doppelstruktur aus. Das eine ist dann der Kosmos der in sich konsistenten kirchenamtlichen Lehre und das andere ist das konkrete Leben der Gläubigen, das handelnd zu bewältigen ist und durch mehr oder weniger bewusste Entscheidungen von diesen gesteuert wird. Das kirchenamtliche Regelsystem und der Regelzusammenhang moderner Lebensführung sind dann je eigenständige Plausibilitätsstrukturen, die relativ unverbunden nebeneinander stehen. Man weiß in groben Zügen, was die katholische Lehre besagt, erlebt diese aber als praxisfern und nicht tauglich dafür, als Richtschnur für das eigenverantwortete Leben zu dienen.

 

Konfliktfeld „Katholische Morallehre“


Im Vorfeld der auf den Weg gebrachten Synode fand im Februar 2014 ein außerordentliches Konsistorium (sc. Vollversammlung der Kardinäle) in Rom statt, das sich mit dem Thema Familie befasste und mit einem Einleitungsreferat von Kardinal Walter Kasper eröffnet wurde. Dieser konstatierte, „dass sich zwischen der Lehre der Kirche zu Ehe und Familie und den gelebten Überzeugungen vieler Christen ein Abgrund aufgetan hat.“ Diese Kluft sollte nach der Auffassung Kaspers so überbrückt werden, dass die Kirche einerseits am bindenden Glaubensgut - wie der Unauflöslichkeit der Ehe - festhält, aber andererseits in der Nachfolge Jesu dafür Sorge trägt, dass ein gestrauchelter oder vom Schicksal gebeutelter Mensch niemals der Barmherzigkeit Gottes verlustig geht. Der Kardinal konkretisiert das anhand zweier Falltypen. Im Hinblick auf Menschen, die von der Ungültigkeit ihrer ersten Ehe überzeugt sind, regt er an, die bisherigen rigorosen kirchengerichtlichen Verfahren in Frage zu stellen und ein seelsorgliches Prozedere einzuführen. Und die Frage des Sakramentenempfangs von geschiedenen Wiederverheirateten betreffend formuliert er fünf Bedingungen, die, wenn sie erfüllt sind, einen Ausschluss des Gläubigen von der Eucharistie als nicht gerechtfertigt erscheinen lassen.

Welche Brisanz der von Papst Franziskus gut geheißene Vorstoß Kardinal Kaspers hat, zeigt sich deutlich, wenn man die panisch anmutenden Reaktionen des traditionalistischen katholischen Lagers zur Kenntnis nimmt. Eine Fundgrube dafür ist die Website „katholisches.info“. In seinem Beitrag „Päpstliches Lob für Kasper und progressiver Bannstrahl gegen die Glaubenslehre“ vom 12.04.2014 wirft Giuseppe Nardi zwei Fragen auf:
1. Ist die Einberufung der Bischofssynode nur der Vorwand, um das Ehesakrament zu kappen?
2. Sind die wiederverheiratet Geschiedenen nur der erste Schritt zu einer „neuen Moral“?
Der Autor insistiert, dass wiederverheiratet Geschiedene in einem Dauerzustand der öffentlichen Sünde leben und deshalb vom Kommunionempfang ausgeschlossen sind. Die Bischofskonferenzen Deutschlands und der Schweiz würden hier Veränderungen anstreben. Seinen Beitrag beschließt Nardi mit dem Hinweis, „ dass Kaspers Lockerungsformel sich nicht nur auf die Frage der wiederverheiratet Geschiedenen anwenden läßt, sondern theoretisch als Universalschlüssel zur Aushebelung der gesamten Glaubenslehre durch eine ‚neue Praxis’.“

Auch Roberto de Mattei, einer der Cheftheoretiker des traditionalistischen Katholizismus, wittert die Gefahr einer „neuen Moral“. In seinem Kommentar vom 03.04.2014 mit der Überschrift Was Gott vereint, kann auch Kasper nicht trennen – Versuch einer paradoxen Kulturrevolution in der Kirche“  warnt er vor einem Dominoeffekt:
„Wenn erst einmal die Legitimität des nachehelichen Zusammenlebens zulässig ist, wäre es nicht einsichtig, warum nicht auch das voreheliche Zusammenleben erlaubt sein sollte, wenn ‚stabil und aufrichtig’. Damit fallen die ‚absoluten Prinzipien’ und die ‚unzerstörbare Absolutheit auch nur eines einzigen sittlichen Wertes’, die Johannes Paul II. mit seiner Enzyklika Veritatis splendor mit so großem Nachdruck bekräftigt hatte.“
Am Ende seines Beitrags führt er die katholische Morallehre als uneinnehmbare Festung vor Augen, indem er eine Aussage von Pius XII. aus dem Jahr 1946 zitiert: „Die zwischen Getauften gültig geschlossene und vollzogene Ehe kann durch keine Macht der Welt gelöst werden, nicht einmal durch die höchste kirchliche Autorität.“ Damit es auch jeder versteht, fügt de Mattei hinzu: „Oder anders gesagt, nicht einmal durch den Papst und erst recht nicht durch Kardinal Kasper.“ Die Absolutheit der Aussage ist von der Wirklichkeit allerdings nicht gedeckt, denn bei nachgewiesenem oder durch den Diözesanbischof  erklärtem Tod (c. 1707 CIC) des Ehepartners gilt die Ehe als aufgelöst (c. 1141 CIC), womit auch kirchlich einer neuen Eheschließung nichts im Wege steht.

Sind wir auf dem Weg zum III. Vatikanum?


Was das traditionalistische Lager der Kirche fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, ist eine Neuauflage des zweiten vatikanischen Konzils. In dieser Zeit wurden während eines dynamischen Diskurses unverrückbar erscheinende kirchliche Grundprinzipien in Frage gestellt, überformt oder neu definiert. Für Alessandro Gnocchi ist die Wirklichkeit den Befürchtungen schon voraus. Verärgert über das, was in der Tageszeitung „La Repubblica“  am 13.07.2014 über ein Gespräch zu lesen war, das Papst Franziskus mit dem Kolumnisten Eugenio Scalfari geführt hatte, schreibt er einen Kommentar auf katholisches.info und betitelt seinen Beitrag vom 28.07.2014 mit : „Haben wir es schon bemerkt? Wir sind mitten im Vaticanum III“.
Sein Befund lautet:
„Die katholische Welt befindet sich bereits mitten im Dritten Vatikanum, das über die Medien einberufen und zelebriert wird. Die römische Location wurde durch die globale Aula ersetzt … Die Vorbereitungsschemata wurden von den Massenmedien redigiert und verbreitet und die Diskussion steht bereitwillig auch für den armseligsten weltlichen Lufthauch offen.“
Das Statement wirkt – möglicherweise auch übersetzungsbedingt – sehr eigenwillig. War es für das II. Vatikanum charakteristisch, dass sich der Weltklerus nicht von der römischen Kurie an die Kandare nehmen ließ, kommt es in den Augen von A. Gnocchi mit dem, was er III. Vatikanum nennt, noch schlimmer. Jetzt werden die anstehenden Themen nicht in Rom verhandelt und durch kuriale Regie in die richtige Richtung und zu gewünschten Ergebnissen gelenkt, sondern der Fragebogen zu Ehe, Familie und Sexualität, den der Papst an die Bischöfe der Welt verschicken ließ, ist für jedermann im Internet zugänglich. Auch das Grundlagenpapier der Sonderbischofssynode 2014 – „Instrumentum laboris“ – kann die Öffentlichkeit über die Homepage des Vatikan jederzeit zur Kenntnis nehmen. Dass die Vorlage dann diskutiert wird und sich Kommentatoren zu Wort melden, ist selbstverständlich und offensichtlich vom Papst auch erwünscht. Was A. Gnocchi – ich paraphrasiere - als Einbruch von kümmerlicher, stümperhafter Profanität in die Sakralität der Kirche wahrnimmt, ist für seine Opponenten die große Chance, mittels moderner Kommunikationsmittel einen innerkirchlichen Meinungsbildungsprozess in Gang zu bringen, aus dem sich ein Sensus fidelium (sc.: der Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes) herauskristallisieren könnte, der dann empirisch unterfüttert wäre.
Klar zu unterscheiden sind allerdings Meinungsbildung und Entscheidung. Nachdem die Bischöfe und der Papst gehört haben, was die Katholiken in aller Welt gesagt haben, wird der Eskopat zusammmen mit dem Papst Beschlüsse fassen.

Mit seiner Bezeichnung III. Vatikanum scheint Alessandro Gnocchi gar nicht so falsch zu liegen. Denn bislang waren die von Papst Paul VI. im Jahr 1965 eingeführten Bischofssynoden Konferenzen, die insbesondere Johannes Paul II. nützte, um die von ihm für unabdingbar gehaltene Einstimmigkeit und Einheit der Kirche zur Schau zu stellen (vgl. Reese,1998, S. 87). Wenn Franziskus jetzt den Akzent auf Synodalität legt, das heisst auf offene und kontroverse Diskussion, so ist die Bischofssynode nicht mehr ein den Papst bestätigendes Gremium, sondern es werden inhaltliche Auseinandersetzungen stattfinden, die am Ende in Entscheidungen münden. Papst Franziskus hätte damit seine Ankündung eingelöst, dass er „so bescheiden und so ehrgeizig (ist)“ (Interview La Repubblika), den Impetus des Konzils aufzunehmen und in den Glaubensdialog einzutreten.

Alessandro Gnocchi und den katholischen Traditionalisten sei ins Stammbuch geschrieben, was der Pontifex im April dieses Jahres gepredigt hat:
„Das Konzil war ein großartiges Werk des Heiligen Geistes … Aber heute, 50 Jahre danach, müssen wir uns fragen: Haben wir da all das getan, was uns der Heilige Geist im Konzil gesagt hat? … Wir feiern dieses Jubiläum und es scheint, dass wir dem Konzil ein Denkmal bauen, aber eines, das nicht unbequem ist, das uns nicht stört. Wir wollen uns nicht verändern und es gibt sogar auch Stimmen, die gar nicht vorwärts wollen, sondern zurück: Das ist dickköpfig, das ist der Versuch, den Heiligen Geist zu zähmen. So bekommt man törichte und lahme Herzen.“
Franziskus, Predigt am 16.04.2013



Quellen

Dei Verbum. Dogmatische Konstitution über die Offenbarung

EG Evangelii Gaudium. Apostolisches Schreiben des Heiligen Vaters

Fragebogen zur Vorbereitung der Bischofssynode

Instrumentum laboris für die außerordentliche Bischofssynode im Oktober 2014 in Rom

Katholisches.info. Magazin für Kirche und Kultur

Reese, Thomas J.: Im Inneren des Vatikan. Politik und Organisation der katholischen Kirche. Fischer: 1998