Samstag, 4. Juli 2020

Mit Meister Eckhart auf Gottsuche


Eckhart von Hochheim wurde um 1260 in Thüringen geboren und zählte um 1300 zu den fähigsten Persönlichkeiten des damals aufstrebenden Dominikanerordens. Er war Ordensoberer, Philosoph, Seelsorger und Gotteslehrer und wirkte an verschiedenen Orten Europas. 1293 und 1302 wurde er nach Paris an die damals bedeutendste Universität des Abendlandes berufen und lehrte am Lehrstuhl der Dominikaner mit dem Anspruch, „die Lehren des heiligen christlichen Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der Vernunftgründe der Philosophen auszulegen.“ (Ruh, 1985, S. 75) Der Nachwelt gilt Eckhart weniger als Philosoph denn als Mystiker, und das, obwohl er nie von ekstatischen Erlebnissen berichtete oder sich auf Visionen berief. Nimmt man eine Sammlung Eckharts deutscher Predigten zur Hand, so beeindruckt einerseits seine bildreich-kraftvolle Sprache, andererseits erscheint manches Ausgesagte als rätselhaft und unverständlich. Dass er es seinen Zuhörern nicht immer leicht machte, war Meister Eckhart bewusst: „Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz deswegen nicht. Denn so lange der Mensch nicht dieser Wahrheit gleich ist, so lange wird er diese Rede nicht verstehen; denn dies ist eine unverhüllte Wahrheit, die da ohne Vermittelndes aus dem Herzen Gottes gekommen ist.“ (Predigt 52) Zwischen Eckhart und uns liegen sieben Jahrhunderte, dennoch mutet sein Denken modern an. Insbesondere fasziniert die Nähe, die Eckhart zwischen Gott und uns Menschen herstellt. 

Eckharts Gottesverständnis 

Eckharts Denken hat seinen Ausgangspunkt nicht in der mannigfaltigen, raum-zeitlichen Welt, sondern für ihn ist der Dreh- und Angelpunkt der überzeitlich-geistige eine und einfaltige Gott – der dreifaltige ist bei Eckhart sekundär. Dieser nicht definierbare und nicht bestimmbare Gott existiert als der namenlose „Ich-bin-der-ich-bin“-Gott in völliger Unabhängigkeit und Unerkennbarkeit für sich im Verborgenen. Sein Kennzeichen ist die Ununterschiedenheit: „Gottes Gottheit liegt daran, dass er von allen Dingen ungetrennt ist.“ (Predigt 77) Über diesen „deus absconditus“, den verborgenen Gott, sagt Meister Eckhart:

„Vernunft ist der Tempel Gottes. Nirgends wohnt Gott eigentlicher, als in seinem Tempel, in der Vernunft, wie jener andere Meister sagte: Gott sei eine Vernunft, die da lebt im Erkennen einzig ihrer selbst, nur in sich selbst verharrend dort, wo ihn nie etwas berührt hat; denn da ist er allein in seiner Stille. Gott erkennt im Erkennen seiner selbst sich selbst in sich selbst.“
(Eckhart, zit. nach Jung, 2010, S. 115)


„Jener andere Meister“, das ist einer der nicht-christlichen Autoren des vermutlich aus dem 12. Jahrhundert stammenden „Buch der 24 Philosophen“ (vgl. Flasch 2010, S.176), auf das sich Eckhart immer wieder bezieht. Spruch 20 - des anderen Meisters - lautet: „Gott ist das einzige Wesen, dessen Leben in seiner Selbsterkenntnis besteht". Während sich menschliche Selbsterkenntnis vielfältigen Kontakten mit anderen Menschen und Erfahrungen mit und in der Welt verdankt, besteht Gottes Autarkie darin, „sein erfülltes Leben einzig in der Erkenntnis seiner selbst zu führen. Darin hat, darin ist er alle Weltinhalte. Aber er ist sie auf seine, auf intellektuelle Weise.“ (Flasch, 2017, S. 25)

Die Gottheit allerdings verbleibt nicht in beziehungsloser Abgeschiedenheit, sondern quillt über in eine „creatio continua“, eine sich ununterbrochen fortsetzende Schöpfung.
„Gott wird (‚Gott‘), wo alle Kreaturen Gott aussprechen: da wird ,Gott'. Als ich (noch) im Grunde, im Boden, im Strom und Quell der Gottheit stand, da fragte mich niemand, wohin ich wollte oder was ich täte: da war niemand, der mich gefragt hätte. Als ich (aber) ausfloss, da sprachen alle Kreaturen: ‚Gott'!“ (Predigt 109)

Im Zentrum dieses Zitates steht die wichtige Eckhart’sche Unterscheidung von Gott und Gottheit. Der Quellgrund ist die Gottheit, von der Eckhart metaphorisch als Stille, Einöde oder Wüste spricht. Im Ausfließen oder Überfließen des Lebensquells wird die Gottheit zum ‚Wort Gottes‘ – Johannes: „Am Anfang war das Wort“ -, das sich mitteilt und sich als Schöpfergott in ein Beziehungs- und Entwicklungsgeschehen hineinbegibt.

„So wahr der Vater in seiner einfaltigen Natur seinen Sohn [...] gebiert, so wahr gebiert er ihn im Innigsten des Geistes, und dies ist die innere Welt. Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Wer in diesen Grund je für einen Augenblick hineinschaute, diesem Menschen sind tausend Mark roten, geprägten Goldes wie ein falscher Heller.“ (Predigt 5b)

Im vorstehenden Zitat taucht das Eckhart’sche Schlüsselwort „Gebären“ auf, das wie die gleichbedeutende Metapher „Zeugung“ eine Hervorbringung meint (generatio). Das große Glaubensbekenntnis benennt Jesus Christus als Gottes eingeborenen Sohn, der gezeugt und nicht geschaffen worden sei. Während das Schaffen nach dem Muster des handwerklichen Herstellens erfolgt, vollzieht sich das Gebären gemäß dem Vorgang des sich ausbreitenden Lichtes oder so, wie sich eine Art über Zeugung und Geburt fortpflanzt. In die Ausfaltung der Gottheit zum dreieinigen Gott ist der Mensch von Anfang an mit hineingenommen. Denn für Eckhart beschränkt sich die Geburt Gottes nicht auf das einmalige Ereignis in Bethlehem, sondern Gottesgeburt kann sich im Grund der Seele eines jeden Menschen ereignen. 

„Es ist Gott wertvoller, dass er geistigerweise geboren werde von einer jeglichen Jungfrau, oder von einer jeglichen guten Seele, denn dass er von Maria leiblich geboren wurde. Darunter ist zu verstehen, dass wir ein einziger Sohn sind, den der Vater ewiglich geboren hat. Als der Vater alle Geschöpfe gebar, da gebar er mich, und ich floss aus mit allen Kreaturen und blieb dennoch drinnen im Vater.“ (Predigt 22) 

Eckharts weiselose Gottheit unterscheidet sich von nichts und hat daher keinerlei Gegenüber. Sie ist als Anfang und Ende, Sein und Einheit, Gerechtigkeit und Weisheit allumfassend. Erst mit der Schöpfung wird die Gottheit zu Gott, der sich durch seine Menschwerdung offenbart und der Menschheit durch Jesus Christus die frohe Botschaft übermittelt. Das singuläre Weihnachtsereignis steht für die bleibende Gegenwart Gottes als fortzeugendes Wort, das dem Weltgeschehen Sinn gibt und jedem Menschen im verborgenen Seelenfunken nah ist. Alles, was Gott tut, zielt darauf ab, „dass Gott geboren werde in der Seele, und die Seele in Gott geboren werde." (Predigt 38)

Die zwei Naturen des Menschen

Der Mensch ist sowohl leibliches wie auch geistiges Wesen. Als Geschöpf Gottes reiht er sich in die beseelte Welt ein. Zu der Zeit, als Meister Eckhart lebte, war Aristoteles die zentrale philosophische Bezugsgröße. Dieser ordnete den Pflanzen eine vegetative, den Tieren eine animalische und dem Menschen eine vernünftige Seele zu. Auf den unteren Seelenstufen aufbauend ist für den Menschen das vernunftgeleitete Denken charakteristisch, das sich im menschlichen Geist zum Denken des Denkens aufschwingen kann und damit auf Göttliches verweist.
Vegetatives und animalisches sowie das intellektuelle Seelenvermögen dienen der Entwicklung und Selbstverwirklichung des äußeren Menschen. Dieser ist ein geschaffenes Wesen, das körperlich ist und über fünf Sinne verfügt, in einer vielgestaltigen Welt lebt und der Zeitlichkeit unterworfen ist. (vgl. Predigt 13) Zum inneren Menschen kann das Individuum gelangen, indem es sich bewusst nach innen wendet und von nach außen gerichteten Sinnesaktivitäten Abstand nimmt. Modern würde man diese Vorgehensweise ›sensorische Deprivation‹ nennen (vgl. Achtner, 2015, S. 97), Eckhart spricht von „Ledig-Sein“ des Gemüts oder „Abgeschiedenheit“ als Loslösung von äußeren Dingen und außengenerierten Vorstellungen und Bildern. Indem der Mensch sich bewusst den Außenreizen entzieht, schafft er innerlich Raum „und dann kann Gott eintreten mit seinem Licht, und er bringt alles das mit sich herein, das du verlassen hast und tausendmal mehr.“ (Predigt 103) Mit dem Seelenmodell innerer Mensch/äußerer Mensch wird Eckhart der Gegebenheit gerecht, „dass die Seele inmitten zwischen dem Einen und dem Zweien geschaffen ist. Das Eine ist die Ewigkeit, die sich allzeit allein hält und einförmig ist. Die Zwei hingegen, dies ist die Zeit, die sich wandelt und vermannigfaltigt.“ (Predigt 32)
Eine andere - auf Augustinus zurückgehende - Metapher für die Doppelstruktur der menschlichen Seele ist die von innerem und äußerem Auge der Seele. „Das innere Auge der Seele ist jenes, das in das Sein schaut und sein Sein ohne irgendwelche Vermittlung von Gott empfängt. … Das äußere Auge der Seele ist jenes, das da allen Kreaturen zugewendet ist und diese in bildhafter Weise und in der Weise der Kräfte wahrnimmt. Der Mensch, welcher nun in sich selbst gekehrt wird, so dass er Gott nach seinem eigenen Geschmack und in seinem eigenen Grund erkennt, ein solcher Mensch ist frei geworden von allen geschaffenen Dingen. … In einen solchen Menschen kommt Gott nicht, da ist er wesenhaft.“ (Predigt 10)

Nach Eckhart ist Gott schon immer im Menschen gegenwärtig. Bereits Cicero und Seneca lehrten: „Keine vernunftbegabte Seele ist ohne Gott; der Same Gottes liegt in uns.“ (Das Buch der göttlichen Tröstung, 99) Und bei Origenes (* 185; † um 254) findet Eckhart folgenden Gedankengang: „Das Bild Gottes, der Sohn Gottes, liegt im Grund der Seele wie ein lebendiger Brunnen. Wirft aber jemand Erde – damit meine ich: irdisches Verlangen – darauf, dann hindert und verdeckt es ihn, so dass man ihn nicht mehr erkennt und nichts bemerkt. Trotzdem bleibt er in sich lebendig.“ (a.a.O. 101) Hier ist bereits das entworfen, was Eckhart als seine zentrale Lehre der Gottesgeburt in der „obersten Vernunft des Seelengrundes“, in der „Spitze der Seele“ oder im „Seelenfunken“ ausbuchstabiert. 

So wie Eckharts Gott doppelgesichtig ist, so ist auch im Bereich der menschlichen Seele zu unterscheiden zwischen der geschaffenen Seele und ihren Seelenvermögen (Aristoteles) – dazu zählen vegetative Funktionen, Begehren, Wahrnehmung, Gedächtnis, Wille und Denken - und dem ungeschaffenen, aber geborenen Seelenfunken, verborgen im Innersten der Seele. Die geschaffene Seele ist verwoben mit der Welt, der Zeitlichkeit unterworfen und hat keinen Eigenstand, weil ihr Sein an der Gegenwart Gottes hängt. Im ort-, zeit- und namenlosen Seelenfunken dagegen steht der Mensch in Seinseinheit mit Gott. „Darum ist die ganze Heilige Schrift geschrieben, darum hat Gott die Welt erschaffen und alle Engelsnatur, dass Gott geboren werde in der Seele, und die Seele in Gott geboren werde." (Predigt 38)

Das aus der Doppelnatur des Menschen resultierende Verhältnis des Menschen zu Gott versinnbildlicht Eckhart anhand des Bibelspruchs Jesus Sirach 24,21:
„Wer von mir zehrt, hungert weiter, (und wer von mir trinkt, dürstet weiter).“
(Sturlese, 2018, 207)
Jedes Seiende – so auch der Mensch - zehrt von Gott als dem Sein; es dürstet aber jedes Seiende nach dem Sein selbst. (vgl. a.a.O., Nr. 47) Wäre der Mensch ein rein weltimmanentes Wesen, so wäre er auf das Endliche hingeordnet, und es wäre ihm in dieser Konstituiertheit möglich, seinen Hunger und Durst zu stillen. (vgl. a.a.O., Nr. 42) Nachdem das Seiende aber letztlich ein Vom-Anderen-Sein ist, also von Gott im Dasein gehalten wird, hat es seine Existenz und seine Vollendungsmöglichkeit nur analog, das heißt uneigentlich und von außen. (vgl. a.a.O., Nr. 52-53) Gottes Geschöpfe sind aus sich selbst nichts und zehren fortwährend von demjenigen, der sie geschaffen hat. Gleichzeitig hungern sie weiter, weil sie im Zehren sich gleichzeitig nach Gott verzehren. Die in der Endlichkeit nie zur Ruhe kommende Sehnsucht nach Vollendung in der verborgenen Einheit Gottes ist selbst die Zehrung/Nahrung, die aus dem Sich-Verzehren entspringt. Denn das Sich-Verzehren nach dem Sich-Verzehren stellt ein auf Erfüllung ausgerichtetes Streben dar, das „dem un-endlichen Gott am nächsten kommt.“ (Grotz 2000, 53)

Die Eckhart’sche Sichtweise der Gott-Mensch-Beziehung

Im Buch Genesis spricht Gott. „Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich.“ Luther übersetzt: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.“ Doch wie hat man sich diese Gottebenbildlichkeit genau vorzustellen?

Die Bestimmung und gleichzeitig Nicht-Bestimmung der Gottheit ist deren Ununterschiedenheit. Daraus leitet sich ab: „Diejenigen, die nichts gleich sind, einzig diese sind Gott gleich. Göttliches Wesen ist nichts gleich, in ihm gibt es weder Bild noch Form.“ (Predigt 6) Es ist das Höchste in der Seele, die menschliche Vernunft, die den Menschen gottförmig macht. Denn der Intellekt ist weder Dieses-da noch Jenes-da. Er kann gewissermaßen alles sein und von daher war der Mensch schon für die Griechen ein Mikrokosmos. Mit dem Intellekt als Licht in uns haben wir Anteil am obersten göttlichen Licht.

Nach der Auffassung des Thomas von Aquin hat die menschliche Seelensubstanz nur abgeschwächt an der göttlichen Substanz teil. Dementsprechend „verhält sich die Schöpfung als unvollkommene Nachahmung (imitatio Dei deficiens) zu Gott.“ (Winkler, S. 40) Eckharts Konzept ist ein anderes. Gemäß seiner Unterscheidung von Gott und Gottheit ist Gott auf zweierlei Weise im gewordenen Menschen. Die geschaffene Vernunft - als dem äußeren Menschen zukommendes Seelenvermögen - steht zu Gott in einem analogen Verhältnis. Der innere Mensch hingegen, insofern er sich Gott anverwandelt hat, erfährt im ungeschaffenen, aber geborenen Seelengrund unmittelbar - in wechselseitiger Bezogenheit - Gottes Nähe. (Univozität)

Wie das zu verstehen ist, erschließt sich - nicht nur dem mittelalterlichen Menschen - in einem von Eckhart herangezogenen Gleichnis. Die Kreatur verhält sich zu Gott wie das Licht zur strahlenden Sonne. „Weicht das Licht, so ist Finsternis: das ‚Nichts‘ des Geschaffenen.“ (Ruh, 1985, S.85) Anders ist es mit der beispielsweise im Mauerstein gespeicherten Wärme. Sie ist auch nach Sonnenuntergang noch vorhanden. Das Licht ist quasi Leihgabe, die Wärme wird zum Eigentum. Die Wärme versinnbildlicht den Gottessohn – von Natur gleich dem Vater -, der per se über das göttliche Licht verfügt. „Sofern aber die menschliche Seele in ihrem ‘Innersten‘ ‚Sohn‘ ist, nämlich durch die Gottesgeburt in der Seele, ist auch das göttliche Licht ihr Licht.“ (a.a.O.)

Der Rede vom „‘Nichts‘ des Geschaffenen“ liegt Eckharts Sichtweise zugrunde, gemäß der es außerhalb von Gott kein eigenständiges Sein gibt. Wenn die Schöpfung keinen Selbststand hat, so „muss das Sein der Schöpfung offenbar als ein In-sein in Gott gedacht werden.“ (Grotz 2009, 82) Das ist allerdings nicht so zu verstehen, dass der Mensch damit wie Gott oder zu Gott wird, sondern es ist so, dass der Kreatur dadurch Sein - von Gott geliehenes Sein - zukommt, dass sie auf Gott relational hingeordnet ist. (vgl. Grotz 2009, 84f, Anm. 220) „Gott selbst ist als Ganzer in allen Dingen, und zwar so, dass er als Ganzer außerhalb ihrer ist.“ (Eckhart, zit. nach Grotz 2000, 50)

In der Predigt ‚Vom edlen Menschen‘ zeigt Eckhart einen sechsstufigen Pfad zum inneren und neuen Menschen auf. Am Zielpunkt dieses Entwicklungsweges ist der Mensch „entbildet von sich und überbildet von Gottes Ewigkeit. Er hat das vollkommene Vergessen des vergehenden zeitlichen Lebens erreicht. Er ist hinaufgezogen und hinüberverwandelt in ein göttliches Bild. Er ist Kind Gottes geworden. … Hier ist ewige Ruhe und Glück. Denn das letzte Ziel des inneren Menschen, des neuen Menschen ist das ewige Leben.“ (Das Buch der göttlichen Tröstung, 101)

„Gibt es denn etwas Edleres, als den, der geboren wird aus dem Höchsten und Besten der Schöpfung und auch noch aus dem innersten Grund der göttlichen Natur und ihrer Einöde? ‚Ich führe‘, sagt unser Herr im Propheten Osee, ‚ich führe die edle Seele in die Einöde. Und dort spreche ich in ihr Herz‘: Das Eine mit dem Einen, das Eine vom Einen, das Eine im Einen und im Einen eins auf ewig. Amen.“ (a.a.O., 115)

Was an Meister Eckhart überzeugt

Meister Eckhart verabschiedet sich von einem Gotteskonzept, bei dem der Mensch Gott gegenübersteht. Da es nichts gibt, das außerhalb Gottes wäre, kann die Schöpfung und mit ihr der Mensch nur als Gottes Hervorbringung aus sich selbst begriffen werden, die von Anfang an auf eine Rückkehr in den verborgenen Quellgrund der seit Ewigkeit existierenden Gottheit angelegt ist.



Literatur

- Achtner, Wolfgang: Eckharts Bildkritik – vom Bild zur Bildlosigkeit. In: Dietl/Mieth (Hg.). Meister-Eckhart-Jahrbuch. Bd. 9.  Kohlhammer 2015, S. 87 - 117
- Flasch, Kurt: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. Beck 2010
- Flasch, Kurt: Predigt 9 'Quasi stella matutina'. In: Steer / Sturlese (Hg.). Lectura Eckhardi IV: Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. 2017, S. 1 – 12
- Grotz, Stephan: Vom Umgang mit Tautologien. Martin Heidegger und Roman Jakobson. Meiner: Hamburg 2000
- Grotz, Stephan: Negation des Absoluten. Meister Eckhart, Cusanus, Hegel. Hamburg 2009
- Jung, Christian: Meister Eckharts philosophische Mystik. Tectum Wissenschaftsverlag 2010
- Meister Eckhart. Das Buch der göttlichen Tröstung. Beck 2007
- Meister Eckhart. Deutsche Predigten. Übersetzt von Louise Gnädiger. Manesse 1999
- Ruh, Kurt: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker. Beck 1985
- Sturlese, Loris (Hg.): Meister Eckhart. Studienausgabe der Lateinischen Werke. Band 2: Expositio libri Exodi, Sermones et lectiones super Ecclesiastici cap. 24. Zweite Vorlesung Nr. 42 – 61. Kohlhammer: 2018
- Winkler, Norbert: Meister Eckhart zur Einführung. Junius 1997


Donnerstag, 21. November 2019

Romano Guardini. Rekonstruktion einer besonderen Familiengeschichte

Der 1885 in Verona geborene Romano Guardini war katholischer Priester, Jugendseelsorger, Theologe und Religionsphilosoph. An der LMU München lehrte er von 1948 bis 1964 Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie. Mit Hingabe und Freude zelebrierte er von 1949 bis 1962 den Universitätsgottesdienst in St. Ludwig, sonntags um 11 Uhr. Seine einzigartigen Predigten fanden großen Zulauf. Romano Guardini († 1968) hat in seiner Wirkungsstätte St. Ludwig seine letzte Ruhestätte gefunden und ist seit 2017 Kandidat für eine Seligsprechung. Ich möchte in meinem Beitrag den biografischen Wurzeln Guardinis nachgehen.


Prälat Romano Guardini war ein Gelehrter, dem es um die Sache und deren Wahrheitsanspruch ging, und der das Persönliche hintanstellte. Er mochte keine Erinnerungen (vgl. S/B 196) und hat viele seiner Briefe und Tagebuchaufzeichnungen verbrannt. Nichtsdestotrotz gibt es in seinem Nachlass biographische Aufzeichnungen – eher fragmentarischer Art -, die zum 100. Todestag 1985 herausgegeben wurden. In meiner Rekonstruktion von Guardinis Biographie erstelle ich aus vorhandenen Mosaiksteinchen ein Familiennarrativ, das beim Auftauchen zusätzlicher Informationen entsprechend zu modifizieren wäre. 
Das Herantragen von tiefenpsychologischen und sozialwissenschaftlichen Interpretamenten an die Geschichte der Familie Guardini ermöglicht es, Entwicklungslinien aufzuzeigen und die innerfamiliäre Beziehungsdynamik zu erhellen.

Der verkrachte Student

Nach seinem Abitur im August 1903 in Mainz begann der 18-jährige Romano in Tübingen mit dem Studium der Chemie. In diese Lebenssituation war er allerdings wie ferngesteuert hineingeschlittert. Auf die Idee, Chemie zu studieren, war er gekommen, weil sein Banknachbar in der Schule dieses Fach mit Überzeugung anstrebte, und Tübingen wurde zum Studienort, weil Guardinis Vater seinen Sohn dort unter den Fittichen seines Filialleiters in Stuttgart wusste. Brav fuhr Romano Guardini jeden Sonntag nach Stuttgart und resümierte rückblickend, dass seine „grenzenlose Schüchternheit“ bewirkte, dass er „in der akademischen Freiheit das gleiche Leben weiterführte wie zu Hause.“ (S/B 61) Als Guardini im Alter von 69 Jahren anlässlich eines Vortrags in Tübingen weilte, erinnerte er sich der „Bedrängnis der ersten zwei Semester, deren Trauma immer noch in mir ist.“ (S/B 247)
Nachdem Guardini das Interesse an chemischen Experimenten fehlte und ihm der absolute Materialismus der damaligen Naturwissenschaften zuwider war, bedurfte es einer Richtungsänderung. Die zu treffende Entscheidung kam wiederum ohne dezidiertem Eigenwillen aus den aktuellen Umständen heraus zustande. „Ich hatte in Mainz einen Bekannten, der Staatswissenschaften studierte. Was das genauer sei, wusste ich nicht, hatte nur das Gefühl, es müsste etwas Geistigeres sein als Chemie, und erklärte meinem Vater, ich wolle das studieren.“ (S/B 63)
Der Bekannte war sein Schulfreund Karl Neundörfer, dem Guardini zum Studieren nach München folgte, nur um dort festzustellen, dass er auch mit der Nationalökonomie nichts anfangen konnte. Als Neundörfer nach einem Jahr zu seinem Ursprungsstudienort Gießen zurückkehrte, wechselte Guardini nach Berlin und erlebte dort den Tiefpunkt seiner gesamten Studienzeit. „Ich sah mit Grauen die Frage auftauchen, was aus mir werden sollte. Wie konnte ich meinem Vater sagen, auch mit diesem zweiten Studium sei es nichts, und, noch schlimmer, ich wisse kein anderes.“ (S/B 72)
Im Rückblick erstaunt der Kontrast zwischen dem berühmten Romano Guardini, der aufgrund eigener innerer Klarheit vielen Menschen Orientierung geben konnte, und dem 21-jährigen orientierungslosen Adoleszenten, der sich in desolatem Zustand befand. Der Erklärungsschlüssel der verfahrenen Lebenssituation des Studenten findet sich in der Familiengeschichte.

Herkunft aus einer italienischen Kaufmannsfamilie

Romano Guardinis Großväter, sein Vater und zwei seiner Brüder waren norditalienische Kaufleute. Den Grundstock für den generationenübergreifenden geschäftlichen Erfolg der Guardinis legte der 1822 geborene Antonio Guardini, dessen Handel mit Eiern und Geflügel offensichtlich so florierte, dass er über die Mittel verfügte, für die Familie einen imposanten Landsitz zu errichten. Die von einem ausgedehnten Park umgebene prächtig ausgestattete Villa wurde um das Jahr 1850 erbaut und gehört zu der 12 Kilometer nordwestlich von Vicenza gelegenen Gemeinde Isola Vicentina. Dass die Villa noch heute in Guardinischem Besitz ist, zeugt von dem unternehmerischen Geschick und der Innovationskraft der Kaufmannsfamilie, der es gelang, ihre Handelsgeschäfte auch über schwierige Zeiten hinweg prosperierend zu betreiben.   
Der Erfolg eines Familienunternehmens hat häufig auch damit zu tun, dass sich einzelne Familienmitglieder in den Dienst des großen Ganzen stellen. So ist lässt sich die Hypothese aufstellen, dass es sich bei der standesgemäßen Verehelichung von Romano Guardinis Vater, Romano Tullio (geb. 1857), und dessen Bruder Aleardo mit zwei Schwestern der Familie Bernardinelli weniger um Liebesheiraten als mehr um arrangierte Ehen handelte. Das Lebensmittelexportgeschäft von Guardinis Großvater mütterlicherseits, Michele Bernardinelli (geb. 1836), und der Guardinische Handel mit Agrargütern passten auf jeden Fall gut zusammen, und der Name der von Guardinis Vater ab 1886 von Mainz aus betriebenen Importgesellschaft „Grigolon – Guardini & Bernardinelli GmbH“, die Geflügel-, Eier- sowie Weinhandel betrieb, deutet auf eine Fusionierung hin. Ein anderes Beispiel für die Indienstnahme durch die Familie ist Romano Guardinis sechs Jahre jüngerer Bruder Aleardo, der – vermutlich als sich der Vater 1915 in die Schweiz zurückzog - sein Studium abbrechen musste, um die russische Filiale der väterlichen Firma zu leiten.

Romanos Eltern 

Der gebürtige Veroneser Romano Tullio Guardini (*1857) heiratete im Jahr 1883 die in Pieve di Bono – circa 100 km nördlich von Verona liegend - zur Welt gekommene Paola Maria Bernardinelli (*1862). Neben der Herkunft aus Unternehmerfamilien verband die Brautleute der katholische Hintergrund und die Absicht eine Familie zu gründen. Hinzu kam, dass Romano Tullio und Paola Anhänger der italienischen Einigungsbewegung waren, die 1861 ihr Ziel einer konstitutionellen italienischen Monarchie erreichte. Insbesondere Romano Guardinis Mutter identifizierte sich mit den italienisch-nationalen Irredentisten, die sich als unbefreite Italiener im verhassten Habsburger Reich erlebten. Paolas Aversion gegen das deutsche Wesen steigerte sich, als sie – wahrscheinlich im Zusammenhang des Todes ihrer Mutter im Jahr 1877 und möglicher vorausgehender Krankheit - im 130 km entfernten deutschsprachigen Meran ein Institut besuchte (vgl. S/B 57); vermutlich das 1723 von Englischen Fräulein gegründete Internat „auf dem Sand.“
Im Jahr 1945 schreibt Guardini: „Auch habe ich von Kind auf ein Erbe von Schwermut von der Mutter her in mir getragen.“ (S/B 75) In einer retrospektiven Gesamtschau könnte man die Frage aufwerfen, ob es sich bei der benannten Schwermut Paolas nicht um eine Depression mit Krankheitswert handelte. Psychologisch ließe sich Paolas Gemütsverfassung so erklären: Verlust der Mutter im Alter von 15 Jahren, heimatferne Unterbringung in einer als negativ erlebten, habsburgisch-deutsch geprägten Umgebung bei nicht bewältigtem Trauerprozess. Heirat (Verheiratung) mit 21 Jahren, Geburt des ersten Sohnes mit 23 Jahren in Verona und ein Jahr später die für sie unabwendbare Übersiedlung nach Mainz. Spätestens ab dem Tod ihrer Mutter erlebte Paola ihr Leben als fremdbestimmt, und es verschlug sie an Orte, an denen sie eigentlich nicht sein wollte (Meran; Mainz).
Der Lebensweg von Romano Guardinis Vater war durch den bestehenden und weiterzuführenden Familienbetrieb vorgegeben. Romano Guardini spricht von dem „Opfer, das er selbst (Romano Tullio, Verf.) um seiner Familie willen hatte bringen müssen.“ (S/B 73) Das Opfer war ein Zweifaches:
1. Romano Tullio musste schon früh in die väterliche Firma einsteigen und damit auf höhere Schulbildung und ein anschließendes Studium verzichten.
2. Er war sehr mit der Nationalbewegung (Risorgimento), die zur Einigung Italiens geführt hatte, identifiziert und musste 1886 seine Heimat in Richtung Deutschland verlassen. Hier fühlte er sich immer nur als Gast. (S/B 57)
Wenn Guardini an seinem 70. Geburtstag in einer Rede davon spricht, dass seine Familie aus beruflichen Gründen nach Deutschland übersiedelte (S/B 295), so erscheint mir das euphemistisch. Es war - so meine These – harte ökonomische Notwendigkeit, die dazu zwang, der Firma in Deutschland einen Standort zu verschaffen, und Romano Tullio Guardini war der Protagonist.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es im neuen Königreich Italien - nach der nationalen Einigung 1861 - zu krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklungen. Ab 1871 begab sich Italien durch die Verhängung von Strafzöllen in einen Handelskrieg mit Frankreich und zu Beginn der 1880er Jahre brach eine schwere Agrarkrise aus, in deren Verlauf die Preise verfielen. Ich gehe davon aus, dass die Kaufleute Michele Bernardinelli und Antonio Guardini und dessen Sohn Romano Tullio einen Krisenrat abhielten, der zu dem Entschluss führte, sich in eine deutsche Import-Gesellschaft einzukaufen.
Der jungen Familie Guardini war aufgebürdet, das zukünftige Wohl und den Fortbestand des Familienunternehmens zu gewährleisten, womit eine Emigration nach Deutschland verbunden war. Das Konzept ging ökonomisch voll auf, führte aber für die innere Entwicklung von Romano Guardinis Herkunftsfamilie zu schwerwiegenden Konsequenzen.

Eine italienische Familie in Mainz

Nach der Heirat (1883) und der Geburt des ersten Kindes (1885) zogen der 29-jährige Familienvater Romano Tullio Guardini und seine 24-jährige Frau Paola mit dem einjährigen Romano nach Mainz (1886). Die Aufbauphase der Familie kann man sich – trotz vorhandenem Hauspersonal – als intensiv und strapaziös vorstellen. Auf das Familienoberhaupt war die Verantwortung für das in Italien wurzelnde Familienunternehmen übergegangen, das sich in Deutschland erst noch etablieren musste, und Paola Guardini brachte zwischen 1887 und 1891 drei weitere Söhne zur Welt.
Gemäß der bisherigen Rekonstruktion sahen sich die - sich leidenschaftlich als Italiener verstehenden - Eheleute genötigt, ihr Heimatland zu verlassen. Das hätte zu einem Schulterschluss der Ehepartner, die sich in der Fremde zu behaupten hatten, führen können. Die sehr prägnanten und bezeichnenden Aussagen Romano Guardinis zu seiner Familie lassen jedoch den psychologisch-diagnostischen Schluss zu, dass sich die Eheleute Guardini zunehmend voneinander distanzierten, ja dass das Familiensystem sich in ein Subsystem Mutter-Söhne und einen für sich stehenden Vater aufspaltete.
Über seinen Vater sagt Guardini, dass sich dieser für die Familie aufopferte und in der Familie kaum anwesend war. Er wäre von seinem Geschäft völlig in Anspruch genommen gewesen, war viel auf Reisen und war bei Ferienaufenthalten nie dabei. „Sein Leben muss furchtbar einsam gewesen sein. Für ihn gab es im Grunde nur die Arbeit.“ (S/B 58)
Seine Mutter – so Guardini - wäre nur sehr widerstrebend nach Deutschland gegangen. „In Mainz verkehrte sie … mit Niemandem. Sie liebte ihre Kinder leidenschaftlich und wendete sich so ganz ins Haus hinein. … In diesem geschlossenen Bereich hat sie, soviel an ihr lag, auch uns gehalten. … Praktisch gingen wir zu niemandem, und niemand kam zu uns.“ (S/B 57)
Paola Guardini igelte sich mit ihren Söhnen in scharfer Abgrenzung von der deutschen Umgebung in einer Art italienischer Enklave ein. In psychoanalytischer Perspektive könnte man die fachliche Kategorie der „Familie als Festung“ heranziehen. (Richter, 1970)
Aus der Art und Weise, wie Frau Guardini ihr Familienleben gestaltete, lässt sich schließen, dass sie ihren Aufenthalt in Deutschland, der über dreißig Jahre andauerte, als ein „Überwintern“ definierte. Hermeneutisch lassen sich vier mögliche Motive rekonstruieren: 
1. Wenn die Ehe von Romano Tullio und Paola Guardini eine arrangierte war, so fehlte möglicherweise die tiefe Bindung einer Liebesbeziehung, die ein Zusammenstehen auch in schwierigen Lebensumständen bewirken kann.
2. Die folgenreiche Entscheidung der männlichen Protagonisten ihres familiären Umfelds, die Firmenzentrale nach Deutschland zu verlegen, in die sie als junge Frau vermutlich nicht eingebunden war, könnte bei ihr zu einer inneren Protesthaltung geführt haben.
3. Der Zwang, ihrem Ehemann nach Deutschland folgen zu müssen, hat möglicherweise eine Retraumatisierung ihrer Meran-Verschickung als Kind/Jugendliche ausgelöst.
4. Ihre durchgehaltene Bezugsgröße „Italien“ veranlasste sie, eine „Verdeutschung“ ihrer Söhne so weit als möglich zu verhindern und das in ihrer Macht stehende zu tun, um die Herzen ihrer Söhne an Italien zu binden und die Option einer gemeinsamen Rückkehr offen zu halten.
Dass Romano Guardinis Vater in der Familie ein Fremdkörper war, zeigt eine kleine Familienszene. „Wenn der Vater zu seinen drei (sic!) Söhnen ins Kinderzimmer kam, um nach dem Rechten zu sehen und sie an die Hausaufgaben zu treiben, sprachen sie, um ihn zu necken, im Mainzer Dialekt; diesen verstand er nicht, und trat unverzüglich den Rückzug an.“ (Gerl-Falkovitz, 1985, S. 26)
Psychologisch ist davon auszugehen, dass Paola Guardini ihre Söhne stark an sich gebunden und auf das Subsystem „Mutterfamilie“ eingeschworen hat. In ihrer auf Haus und Familie zurückgeworfenen Isoliertheit und ihrer inneren Einsamkeit, waren ihre Söhne für ihre Identitätsgewinnung und zur Aufrechterhaltung ihres seelischen Gleichgewichts wichtig. Die Familientherapeutin Thea Bauriedl zeigt auf, dass es bei Elternteilen, denen es an befriedigenden Erwachsenenbeziehungen mangelt, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu - ihnen selbst nicht bewussten – Grenzüberschreitungen ihren Kindern gegenüber kommt. Es kann dann passieren, dass seelisch bedürftige Bezugspersonen „das zunächst noch ungeschützte und zu hohen Anpassungsleistungen fähige Kind zum Ausbalancieren des eigenen psychischen Gleichgewichts (verwenden), indem sie projektiv eigene Bedürfnisse oder andere Inhalte bei ihm wahrnehmen und dort mit ihnen umgehen.“ (Bauriedl,1980,S. 108)
Tiefenpsychologisch würde man im Fall von Paola Guardini und ihren Söhnen von verschmolzenen bzw. verklammerten Beziehungen sprechen, die sich auf die weitere Entwicklung massiv auswirken und insbesondere die Ablösung als zentraler Entwicklungsaufgabe des Jugendalters erschweren.

Die familiäre Prägung

In dem 1945 geschriebenen „Bericht über mein Leben“ blickt Romano Guardini auf sein Aufwachsen in der Familie zurück. Seine Welt und die Welt seiner Brüder bezeichnet er als geschlossen, und die ganze Zeit bis zur Reifeprüfung mit 18einhalb Jahren erscheint ihm „wie zugedeckt“ (S/B 59), „alles liegt wie unter Wasser“. (S/B 60)
Zur Charakterisierung dieser Zeit verwendet er die Metapher der Verhüllung, „von der ein Element durch mein ganzes Leben geblieben ist“ (S/B 59) und merkt sehr treffend an, dass das mit Sicherheit „psychologisch allerlei zu bedeuten“ hat. (ebd.) Wir wissen bereits, dass Paola Guardini ihre Söhne stark an sich gebunden hat. Hinzu kommt, dass die Mutter das - die Ablösung befördernde - Hineinwachsen der Söhne in außerfamiliäre Bereiche unterband. 
Normalerweise ist die Sozialisationsinstanz Schule für Heranwachsende ein wichtiges zweites Standbein neben dem der Familie; nicht so für Romano. „Wohl war noch die Schule da. Was diese aber für den Jungen wichtig macht, ist nicht so sehr der Unterricht, als die Welt der Beziehungen mit Gleichaltrigen, welche sich ins Leben hinaus fortsetzen. Davon fiel bei uns das Meiste weg, so war die Schule ein isolierter Bereich, in den ich hineinging und den ich wieder verließ.“ (S/B 57) Diese Wahrnehmung deckt sich mit der Außenperspektive eines Mitschülers: Romano „kam jeden Morgen pünktlich, kurz vor Schulanfang von der Insel (Platz in Mainz, Verf.) her. Ich erinnere mich noch an ihn als eine ruhige Erscheinung, meist dunkel angezogen. Er hatte zu uns sehr wenig Beziehung, war aber dabei nicht unfreundlich. Wir mochten ihn und betrachteten ihn trotz seines andersartigen Benehmens als uns zugehörig.“ (Volbach, 1979, S. 74)
Die Gefühle, die Guardini der Schule gegenüber hatte, benennt er als „Fremdheit, die sich oft genug zur Furcht steigerte.“ (S/B 57) Den eigentlichen Grund für sein Fremdheitsempfinden sieht er in der „Atmosphäre des Hauses, das uns nie ins Freie entließ.“ (S/B 58) Diese Formulierung spiegelt aus meiner Sicht die reale Familiendynamik angemessen wider. Der nicht verbalisierte „Auftrag“ der Mutter an ihre Söhne, „Italien und ihr treu zu bleiben“ und sich nicht auf die deutsche Mitwelt einzulassen, ist mit dem Begriff des Atmosphärischen eingefangen und das Vorenthalten von Freiheit lässt das italienische Elternhaus als eine Art goldener Käfig erscheinen.
Wenn eine Mutter ihre Kinder zu eng an sich kettet und ein Hineinwachsen der Kinder ins gesellschaftliche Umfeld verhindert, wäre an dieser Stelle der Vater als derjenige, der Brücken zur Welt schlägt, gefragt. Im Rückblick bedauert Guardini, dass sein Vater nicht nur äußerlich kaum präsent, sondern auch innerlich in sich zurückgezogen war. Nach seiner Einschätzung hatte er bis zum Tod seines Vaters „nicht mehr als zehn oder fünfzehn tiefer gehende persönliche oder sachliche Gespräche gehabt.“ (S/B 58) Sein Resümee: „So hat auch er die geschlossene Welt unserer Kindheit und Jugend nicht ausgeweitet.“
Dennoch spielt der Vater für Romanos Entwicklung eine größere Rolle, als prima facie erkennbar ist. Rebellion gegen die Mutter war sicher nicht Romanos Sache. Umso wichtiger war es für den Jungen, Nischen in seiner Lebenswelt aufzutun, die nicht durch seine Mutter dominiert waren. Trotz eingeschränkter Kontaktmöglichkeiten schaffte es Romano, einige Beziehungen zu gleichaltrigen Jungen zu pflegen. So kannte er seinen besten Freund, Karl Neundörfer, mit dem zusammen er das zweite Studienjahr in München verbrachte, bereits seit der ersten Klasse. Als 15-jähriger bekam er in seinem Dachgiebelzimmer öfter Besuch von dem mit ihm schon seit Kindertagen bekannten Philipp Harth, der von diesen Begegnungen berichtet: „Als ich ihn zum ersten Mal besuchte, war ich überrascht, Abbildungen nach Kunstwerken an die Wand geheftet zu sehen, wie ich sie selbst ausgewählt hätte. Romano besaß ein Büchergestell mit vielen Büchern. … Voller Bewunderung hörte ich zu, wenn Romano den Inhalt von Büchern schilderte, die er gelesen hatte. … Das größte und schönste Buch, das Romano besaß war Dantes Göttliche Komödie mit den Illustrationen von Dore. Diese Bilder betrachteten wir oft, Romano wusste sie mir zu erklären, da er dieses Buch gelesen hatte.“ (Zit. nach: Gerl-Falkovitz, 1985, S. 40)
Bücher waren für Romano offensichtlich ein Mittel, aus der verengten mütterlichen Lebenswelt in die Weite der Geisteswelt hinauszutreten. Dante Alighieri, über den Guardini in Fühlung mit dem italienischen Kulturraum blieb, sollte für ihn zum lebenslangen Begleiter werden. Und vor allem: Es war sein Vater, der ihm Dante nahegebracht hat. Guardinis Studie von 1937 Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie ist in italienischer Sprache eine Widmung vorangestellt: „Dem Andenken meines Vaters, von dessen Lippen das Kind die ersten Verse Dantes pflückte.“
Gerade wegen der schmerzhaft vermissten familiären Präsenz des Vaters war für den Sohn die von geistiger Affinität getragene innere Beziehung zum Vater umso wichtiger. Diese Beziehung nahm nach dem Abitur, als der Vater für den Unterhalt seines Sohnes zuständig war, konkrete Form an und hatte sich in Romanos Desorientierungsphase der ersten Studienjahre zu bewähren.

Romanos Krise und deren Ursache

Biographischer Ausgangspunkt meiner Familienrekonstruktion war der 18-jährige Adoleszent Romano an der Schwelle zwischen Schule und Universität. Nach dem bisher Erörterten ist es nicht mehr ganz so rätselhaft, wieso es Romano nicht möglich war, mit Entschlossenheit einen selbst gewählten universitären Ausbildungsweg zu beschreiten.
Im Rückblick konstatiert der 60-Jährige: „Die Autorität der Eltern galt absolut und in allem. Man hatte ein guter, artiger, wohlerzogener Junge zu sein. Von Selbstständigkeit war keine Rede.“ (S/B 56) Dieser - als autoritär zu bezeichnende - Erziehungsstil wirkte sich auf die Autonomieentwicklung Romanos behindernd aus. Hinzu kamen auf der emotionalen Ebene Ängstlichkeit, „grenzenlose Schüchternheit“ (S/B 61), Skrupulosität und die Neigung zur Schwermut. Die Skrupulosität beschreibt Guardini als sinnlose Selbstverzehrung, die mit der schwermütigen Veranlagung zusammenhängt. In ihrer schädigenden Wirkung „zerstört sie nur Urteil und Kraft, ganz abgesehen von der Gefahr eines inneren Kurzschlusses, der den Ängstlichen ins Gegenteil treibt, so dass er alle Hemmungen abwirft …“ (S/B 79) 
Guardini weiß, wovon er spricht. Nach zwei Semestern Chemie in Tübingen und zwei Semestern Staatswissenschaft in München erreichte er im Wintersemester 1905/06 in Berlin den Tiefpunkt einer Abwärtsspirale. Er fühlte sich grenzenlos verloren, wusste nicht, wie es mit ihm weitergehen sollte, und geriet in einen Zustand tiefster Verzweiflung. 
Die sich über mehr als zwei Jahre hinziehende negative Verlaufskurve beruhte auf einer innerpsychischen Blockade. Romano wollte sowohl den Erwartungen seiner Eltern als auch sich selbst gerecht werden und suchte nach einem für ihn lebbaren Kompromiss, den es offensichtlich nicht gab.
Die Familie, in der er aufwuchs, war – so meine These - auseinanderdividiert. Der Vater reibt sich als Ernährer im Geschäftsleben auf, die Mutter versucht mitten in Deutschland, ihre Söhne italienisch zu sozialisieren. Vermutlich erlangte - gerade auf dem Hintergrund von faktischer Vereinzelung - das von beiden Elternteilen geteilte und sie verbindende Ideal der Liebe und Treue zu Italien besondere Bedeutung. Gemessen an dieser Norm musste sich der älteste Sohn als Verräter empfinden. Bei seiner Dankesrede im Rahmen der Feier seines 70. Geburtstages kommt Guardini auf die Kluft zu sprechen, die in seiner Jugendzeit dadurch entstand, dass man zuhause italienisch sprach und dachte, er aber geistig in die deutsche Sprache und Kultur hineinwuchs. „Ich fühlte mich innerlich dem deutschen Wesen zugehörig“ (S/B 295) und „Ich habe … Anlass, hervorzuheben, dass ich schon sehr früh den Drang nach dem Norden empfunden habe.“ (S/B 297)
Wäre es nach Romanos ureigenem Interesse gegangen, hätte er „vermutlich Philologie und Literaturwissenschaft studiert.“ (S/B 63). Aber das hätte er seinen Eltern nicht antun wollen. Auch eine Beamtenlaufbahn und die Jurisprudenz waren quasi ausgeschlossen, denn der Vater war leidenschaftlicher italienischer Patriot, dem es arg zugesetzt hätte, wenn sein ältester Sohn die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hätte. (Vgl. S/B 295)
So wird erklärlich, dass Romano im Hinblick auf seine berufliche Orientierung paralysiert war und seine Studienwahlen aufgrund äußerer Zufallskonstellationen zustande kamen.

Guardinis Fähigkeit zur Selbstsorge

Romano Guardini stand als Adoleszent vor der Aufgabe, sich aus der verklammerten Beziehung zu seiner Mutter zu lösen und einen beruflich gangbaren Weg zu finden. Ich denke, dass er instinktiv erkannt hat, dass er dem Sog der Familie nur entkommen kann, wenn er sich außerfamiliäre Ankerungspunkte verschafft. Was ihm dabei zugute kam, war seine Fähigkeit, Freundschaften einzugehen und aufrechtzuerhalten. Außerdem hatte er sich schon zu Schulzeiten auf einen geistig-spirituellen Weg begeben, der alles andere als geradlinig war, aber dessen Herausforderungen er sich mit großer Ernsthaftigkeit stellte.
Romanos engster Freund war Karl Neundörfer. Die beiden Jungen waren von der ersten Klasse bis zum Abitur Schulfreunde, aber eine intensive Freundschaftsbeziehung konnte sich bezeichnenderweise erst nach dem Abitur entwickeln. Beide waren katholisch sozialisiert, gerieten in der Auseinandersetzung mit Kant in eine Glaubenskrise und schafften es im dialogischen Zwiegespräch, zu einem neuen Fundament ihres Glaubens zu finden. Nach der juristischen Promotion Neundörfers studierten die beiden Freunde ab dem WS 1906/07 zusammen in Tübingen Theologie. Gemeinsam entwickelten sie die Grundgedanken zu der später von Guardini publizierten Gegensatzlehre. In der Zeit, die auf die 1910 in Mainz gefeierte Primiz folgte, kreuzten sich die Wege der Jungpriester in der Quickbornbewegung. Quickborn war ein katholischer Zweig der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstandenen Jugendbewegung. Mit dem frühen tragischen Tod Neundörfers, der 1926 im Engadin bei einer Bergbesteigung ums Leben kam, widerfuhr Romano Guardini der „bitterste Verlust“ seines Lebens. (S/B 68)
Der andere gute Freund Guardinis war Josef Weiger. Sie lernten sich in Tübingen bei einer Vorlesung im Herbst 1906 kennen und waren über sechzig Jahre hinweg in enger freundschaftlicher Beziehung. Weiger begann seinen Berufungsweg als Novize der benediktinischen Erzabtei Beuron, wurde dann aber Diözesanpriester und war vierzig Jahre lang Pfarrer im oberschwäbischen Mooshausen. Über Weiger fand Guardini nicht nur Zugang zum liturgisch bedeutsamen Beuron, sondern Mooshausen – in dem Guardini die Kriegsjahre 1943 bis 45 verbrachte – wurde für Guardini zur häufig besuchten „inneren Heimat.“ (Gerl-Falkovitz 2008, Brief 138, 30.09.1930)
Mit dem Theologiestudium in Tübingen begann der sozial-emotionale Befreiungsweg Guardinis. Ihm tat nicht nur die lebendige Gemeinschaft mit seinen beiden Freunden und anderen Mitstudenten gut, sondern es wurde auch der Dogmatikprofessor Wilhelm Koch wichtig, der den jungen Leuten wegen seiner couragierten Opposition gegen die damals anti-modernistisch agierende katholische Kirche imponierte. Die durch Eigeninitiative zustande gekommenen psychotherapienahen Beichtgespräche bei Professor Koch halfen Guardini, über seine Ängstlichkeit und Skrupulosität hinweg zu kommen. Schon in den Jahren zuvor hatte der Adoleszent Kontakte zu älteren Persönlichkeiten geknüpft, die in der Lage waren, seine Entwicklung positiv zu beeinflussen. So stand er während des Berlinsemesters in Kontakt mit dem Mainzer Diözesanpriester Dr. Johannes Moser, einem „etwas schrulligen Genie.“ (S/B 72) Am bedeutsamsten für Romanos Emanzipationsweg wurde aber das Mainzer Ehepaar Wilhelm und Josefine Schleußner. 
Die Schleußners waren kinderlos und luden einmal in der Woche einen Kreis junger Leute zum Fünf-Uhr-Tee ein. Die Freunde Romano und Karl verkehrten in diesem Hause zwischen 1903 und 1913 und besprachen dort anstehende Entscheidungen und insbesondere auch die sie bedrängenden religiösen Fragen. Guardini suchte im Lauf der Zeit die Schleußners immer häufiger auf und wunderte sich im Rückblick, „wie die beiden, die doch ihre Arbeit hatten, (so viel) Zeit mit mir verlieren mochten.“ (S/B 66)
Der Gymnasiallehrer Wilhelm Schleußner war Konvertit, hatte intensive religiöse Interessen und galt seinen Freunden als „kleine Universität“ und „lebendige Bibliothek.“ Von der sehr gebildeten und caritativ tätigen Josefine Schleußner war Romano in besonderer Weise angetan. „So habe ich ihr denn auch die Verehrung entgegengebracht, die ein junger Mensch für eine viel ältere, geistig bedeutende und menschlich sehr feine Frau empfindet … In ihrer Nähe fühlte man etwas Ungewöhnliches, aber in der Form einer Güte und Zurückhaltung, die nie verwirrte oder bedrückte, sondern immer half. Mit Schleußners diskutierte ich meine religiösen Fragen, wurde mir aber bald bewusst, dass hauptsächlich sie es war, derentwegen ich kam. So war es denn auch am Schönsten, wenn ich sie allein traf, und ihr erzählen konnte, was ich auf dem Herzen habe.“ (ebd.)
Psychoanalytisch würde man von Mutter-Übertragung sprechen, in dem Sinn, dass Romano bei Josefine Schleußner mit den Gefühlen, Wünschen und Erwartungen zum Zuge kam, die in der Beziehung zu seiner Mutter in hohem Maße unerfüllt geblieben sind. Diese Interpretation bestätigt sich an einer späteren Textstelle, als Guardini im Zusammenhang mit seiner Primiz davon spricht, dass ihm Herr und Frau Schleußner „so etwas wie geistige Eltern gewesen waren.“ (S/B 91) 
Hat Romano Guardini nach seiner Schulzeit bereits geahnt, dass ein familiärer Bruch bevorsteht? Er hat mit Sicherheit gespürt, dass auf ihn Herausforderungen zukamen und hat instinktiv bzw. gezielt ein soziales Beziehungsnetz aufgebaut, das freundschaftlich-familiären Charakter hatte und durch das er seiner Herkunftsfamilie eine Art Wahlfamilie zur Seite stellte.

Der steinige Weg zu sich selbst

Die durch sein Elternhaus vereinnahmte Kinder- und Jugendzeit machte es Romano Guardini schwer, seinen eigenen Weg ins Leben zu finden. Der Ausweg aus seiner Orientierungslosigkeit und Verlorenheit fiel ihm unerwartet während jenes Wintersemesters 1905/06 in Berlin zu, das für ihn das Schlimmste seiner ganzen Studienzeit war. Eines Sonntags im Hochamt der Dominikanerkirche sah Romano Guardini einen Laienbruder ruhigen Gesichts mit seinem Klingelbeutel herumgehen und plötzlich kam ihm der Gedanke: „Könntest du nicht das gleiche werden wie er? Dann hättest du Frieden. Dann ging der (Gedanke) aber sofort weiter: Nein, Laienbruder nicht, aber du könntest Priester werden. Und da war es, als ob alles ruhig und klar würde, und ich ging mit einem Glücksgefühl nach Hause.“ (S/B 75)
Jetzt wusste der Student, was er wollte, aber die bevorstehende Auseinandersetzung mit seinen Eltern bereitete ihm Bauchschmerzen. In dieser Situation konnte Romano Guardini auf sein persönliches Beziehungsnetz zurückgreifen. Schon am nächsten Tag suchte er Dr. Moser auf, um mit ihm die Stimmigkeit der getroffenen Entscheidung zu überprüfen. Als das Semester beendet war, und er wieder in Mainz weilte, sprach er zuerst mit den Schleußners (vgl. Gerl-Falkovitz, 1995, S. 62), und man kann davon ausgehen, dass Karl Neundörfer von Anfang an eingeweiht war.
Konfrontiert mit der Neuausrichtung seines Sohnes reagierte Romano Tullio Guardini sehr ungehalten. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen hielt er es für gut möglich, dass sein Sohn erneut auf einem Holzweg war und wollte, dass dieser zuerst sein jetziges Studium abschließen solle. Würde er dann noch immer Theologie studieren wollen, so würde er das unterstützen. 
Romano hatte das Glück, dass in dieser Situation – so meine These - der unbewusste psychologische Mechanismus der Delegation (Stierlin 1975) griff. Seinem Vater blieb ein selbstbestimmtes Leben versagt, er konnte aber seine unerfüllten Wünsche auf seinen Sohn projizieren (Delegation). Sein Sohn würde dann für sich selbst und stellvertretend für ihn einen ureigenen Weg gehen. In den Aufzeichnungen Guardinis ist von der Güte des Vaters die Rede, dem die „volle Freiheit“ (S/B 73) des Sohnes ein Anliegen war. Aus dieser Beziehungsdynamik heraus gelang es Romano, seinen Vater auf seine Seite ziehen.
Diesem Vater-Sohn-Konsens stellte sich die Mutter allerdings entschieden entgegen und wollte den Vater dazu bringen, dass dieser dem Sohn die ökonomische Grundlage entzog. Rückblickend vermutet Guardini: „So war ihr, glaube ich, der Gedanke, ihr ältester Sohn wolle Priester werden, einfach genant.“ (S/B 74) Das ist sicher nicht die ganze Wahrheit. Uns ist bekannt, dass sie schon die Entscheidung ihres Sohnes für Deutschland nicht akzeptieren konnte; der Priesterstatus würde ihn noch mehr von ihr entfernen. Dass Guardini das Merkmal „ältester Sohn“ anführt, lässt folgende Spekulation zu. Paola Guardini hat mit 15 Jahren ihre Mutter verloren. Mit der Geburt ihres ersten Sohnes – acht Jahre später – war gleichzeitig auch das Thema des Verlustes ihrer Mutter präsent, woraus eine besonders starke innere Verbindung zu ihrem ältesten Sohn erwuchs. Das würde erklären, warum es ihr so schwerfiel, ihren Erstgeborenen freizugeben. Angesichts der Tatsache, dass Frau Guardini bis zu ihrem Tod mit ihrem drittgeborenen Sohn Mario zusammenlebte, könnte man fantasieren, dass eigentlich Romano ihr „Auserwählter“ und Mario nur stellvertretend an ihrer Seite war. Vor diesem Hintergrund kann man ermessen, wie entscheidend es für Romano war, dass sich der Vater in dieser zugespitzten Konfliktsituation gegenüber seiner Frau durchsetzte.
Das war allerdings noch nicht der Durchbruch. Kaum studierte Guardini mit dem Einverständnis des Regens des Mainzer Priesterseminars im Sommersemester 1906 Theologie in Freiburg passierte es paradoxerweise, dass er an seinem Wunsch, Priester zu werden, irre wurde, ja sogar eine unaussprechliche Abneigung gegen das Priester-sein entwickelte. Als er sich an den tiefsten Punkt seiner Krise erinnert, schreibt er: „Die Grundwasser der Schwermut stiegen in mir so hoch, dass ich zu versinken glaubte, und der Gedanke, mit dem Leben Schluss zu machen, mir sehr nahe war.“ (S/B 75) Nur auf eine einzige Art und Weise fand er damals Ruhe, dann wenn er auf den Stufen des Sakramentsaltares des Freiburger Münsters niederkniete.
Wenn wir uns vorstellen, Guardini hätte sich damals in Psychotherapie begeben, so hätte sich möglicherweise herausgestellt, dass ihm die belastete Beziehung zu seiner Mutter zu schaffen machte und er unbewusst eine Wiedergutmachung anstrebte.
Die Lösung der Krise widerfuhr Romano Guardini auf spiritueller Ebene, bei einem Ausflug zum Kloster Hohenburg auf dem Odilienberg im Elsass. „Auf dem Rückweg, der schönen Straße, die an der Karthause vorbeiführt, betete ich den Rosenkranz. Da löste sich die Not, und ich wurde ruhig. Es war meine erste wirkliche Begegnung mit diesem Gebet, das mich später so viel beschäftigen sollte. Von jener Stunde an habe ich an meinem Priesterberuf nie mehr gezweifelt.“ (S/B 75) 
In der Retrospektive ist erkennbar, dass Guardini eine wirkliche Selbstbefreiung glückte. Sein Aufwachsen in familiärer Abhängigkeit hätte auch zur Folge haben können, dass er sich in die Gegenabhängigkeit einer kirchlichen Gehorsamsstruktur flüchtet. Guardini schaffte es aus der Not eine Tugend zu machen und wurde so zum leuchtenden Vorbild eines Kirchenmannes, der in unbedingter Loyalität zu seiner Kirche - allen Widrigkeiten trotzend – einen singulären Freiheitsweg ging.


Literatur

Sigel (S/B) Guardini, Romano: Stationen und Rückblicke / Berichte über mein Leben. Verlage Grünewald und Schöningh 1984. 5. Aufl. 1995
Bauriedl, Thea: Beziehungsanalyse. Das dialektisch-emanzipatorische Prinzip der Psychoanalyse und seine Konsequenzen für die Familientherapie.1980
Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara: Romano Guardini 1885–1968. Leben und Werk. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1985. 4. Aufl. 1995
Gerl-Falkovitz (Hg): „Ich fühle, dass Großes im Kommen ist." Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908-1962, Grünewald 2008
Richter, Horst-Eberhard: Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie, 1970
Stierlin, Helm: Eltern und Kinder im Prozess der Ablösung. Suhrkamp: 1975
Volbach, Wolfgang Fritz. Mein Mitschüler Romano Guardini. In: Heist, Walter (Hg.). Romano Guardini. Der Mensch. Die Wirkung. Begegnung. Mainz 1979




























Dienstag, 5. März 2019

Volker Gerhardts philosophische Neuthematisierung Gottes

Warum es Sinn macht zu glauben


Einleitung


Dem philosophisch Interessierten fallen bei der Verbindung von Gott und neuzeitlicher Philosophie möglicherweise die Namen Kant, Feuerbach und Nietzsche ein. Kant zeigte auf, dass unsere Begriffe in Raum und Zeit verhaftet sind, und es daher nicht möglich ist, Gott zu beweisen. Für Feuerbach war Gott „der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb des Menschen", also nichts weiter als eine Projektion. Nietzsche rief den Tod Gottes aus, was einen Mauersprayer veranlasste, die Sentenz: „Gott ist tot. Nietzsche“ durch „Nietzsche ist tot. Gott“ zu persiflieren.

Im Jahr 2016 startete das diözesane Bildungszentrum in Freising die Reihe GOTT.neu.denken, die sich mittlerweile im dritten Durchgang befindet und wo die Gottesfrage aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln beleuchtet wird. Den Bereich Philosophie vertraten neben dem Münsteraner Theologieprofessor Klaus Müller zwei emeritierte Professoren aus Berlin, Holm Tetens und Volker Gerhardt – beide mit protestantischen Hintergrund –, deren Ausführungen auf sehr positive Resonanz stießen. Der Wissenschaftstheoretiker Holm Tetens hat im Jahr 2013 das Buch Gott denken. Ein Versuch über Rationale Theologie veröffentlicht und von dem Philosophen Volker Gerhardt, den man als rationalen Existenzialisten bezeichnen könnte, gibt es zwei thematisch einschlägige Bücher: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche aus dem Jahr 2014 und Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang von 2016. Volker Gerhardts Buch Der Sinn des Sinns hat so viel Aufmerksamkeit erfahren, dass im Jahr 2016 ein Band mit den gesammelten Kritiken von Fachleuten erschien: Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt.

Volker Gerhardt besteht gegen den Mainstream darauf, dass die Metaphysik zur Philosophie gehört. Denn nach seiner Überzeugung gehört das Problem des Göttlichen zu den elementaren Fragen des Philosophierens und ist dort im Kontext der Ethik, der Ästhetik, der Kultur- und der Geschichtsphilosophie zu verhandeln. (vgl. 2016b, S. 15)

Ausgangspunkt seines weit gespannten Sinn-Projektes ist der menschliche Sinn, der seine leibliche Fundierung in den menschlichen Sinnesorganen hat und dessen Bedeutung bis in den Bereich transzendenter Sinngebung reicht. Auf philosophischer Ebene reißt Gerhardt den Grenzzaun zwischen den sich oftmals exklusiv verstehenden Sphären von Glauben und Wissen ein und zeigt, dass beide einander wechselseitig bedürfen. Die aufgewiesene Unverzichtbarkeit des Glaubens mündet bei ihm in die Erkenntnis, dass jegliche Sinngebung menschlichen Daseins notwendig auf das Göttliche als rationale Grundbedingung angewiesen ist.

Wer über das philosophisch argumentierte Göttliche hinausgehen will, dem bringt Gerhardt in seiner Sinn-Theologie nahe, dass dem Menschen als Ganzem das Göttliche aus der Ganzheit des Wirklichen entgegenkommt und er es als „Stimme“ begreifen kann, in der sich die Welt dem Individuum mitteilt. „In diesem Akt des als vorbehaltlos erlebten persönlichen Zutrauens zum Ganzen, das sich darin dem Einzelnen öffnet, wird das Göttliche der Gegenwart des Universellen zum individuellen Glauben im Angesicht Gottes.“ (2015, S. 275) 

Die von Gerhardt gewonnenen philosophisch-theologischen Einsichten veranlassten ihn, von der Formel vom „Gott als Grund“ Abstand zu nehmen und statt dessen das Göttliche als „Sinn des Sinns“ zu bestimmen. Im Folgenden werde ich versuchen Gerhardts Philosophie zu skizzieren.

2. Vom Sinn zum Sinn des Sinns 

„Unser gesamtes Denken ist so beschaffen, dass wir aus verschiedenen Gründen immer auf das Ganze ausgreifen müssen. … Ich denke, die Frage (nach dem Ganzen, S.S.) ist unaufgebbar, und was immer wir sagen über etwas, was uns letztlich verbindet in unserem Leben, was eine unbegrenzte Wichtigkeit hat, dann haben wir zugleich einen Horizont im Sinne, in dem das Ganze die Orientierung gibt.“ (Dieter Henrich, 2008)

Dieses Diktum des international bekannten deutschen Philosophen Dieter Henrich ist auch dasjenige Volker Gerhardts. Auch wenn das Verständnis dieser Grundstruktur unzulänglich bleibt, wird es notwendig vorausgesetzt. Der Mensch strebt ein psycho-soziales Gleichgewicht an, zu dem er nur durch einen gewissen Einklang mit seiner Welt finden kann. „Er benötigt einen ihm selbst korrespondierenden Begriff von dem, was ihm als Ganzes gegenübersteht.“ (Vortrag 2018)

„Das Ganze lässt sich als Generalbedingung eines jeden möglichen Sinns verstehen, der unserem Erleben einen Inhalt, unseren Worten eine Bedeutung und unserem Handeln eine Absicht gibt. Eben diese Leistung kann man göttlich nennen.“ (2015, S. 267) Unter göttlich versteht Gerhardt das, „was in seiner bedeutungsvollen Größe, in seiner unfassbaren Übermacht sowie in seiner unergründlichen Tiefe vom Menschen als schlechthin fundamental, übergeordnet und erhaben erfahren werden kann. Gott ist in allem, worin sich etwas findet, das für den Gläubigen eine ihn selbst umfassende Bedeutung erlangt.“  (2016 b, S. 26)
Ohne Sinn kommt im menschlichen Dasein nichts zu Stande. Was immer wir mit Bewusstsein tun, verfolgt einen Sinn, der unserer Handlung allererst ihr Charakteristikum und ihre mehr oder weniger bestimmte Bedeutung verleiht. Sinn ermöglicht den Brückenschlag zwischen intrapersonalem Erleben und sich extern abspielendem Leben, zwischen Glauben und Wissen, zwischen dem Menschen als integrierter Ganzheit und der Welt als alles umfassendem Ganzen. Kommunikation, Kooperation und Konstitution sind ohne Sinn nicht denkbar.
So wie der einzelne Kommunikationsakt auf das Ganze der Sprache bzw. unserer Verständigungspraxis ausgreift, so überschreitet der Sinn eines Ereignisses dieses Ereignis selbst. Alles menschliche Denken, Sprechen und Handeln ist in einen Sinn eingebunden, der niemals nur für sich steht (vgl. 2015, S. 315), sondern auf einen Sinnhorizont verweist.„Der Sinnhorizont steckt den Rahmen ab, in dem wir überhaupt etwas erwarten. Er ist das Äußerste, in dem selbst das Fremde seinen Ort finden muss, in dem aber auch das Vertraute seinen natürlichen Platz hat. Der Sinnhorizont ist die Bedingung für das Verstehen überhaupt. Wir müssen an ihn glauben, wenn wir überhaupt etwas verstehen wollen.“ (Vortrag 2009) Der Sinnhorizont verbürgt als Sinn des Sinns den Sinn der einzelnen Sinne.
In unseren besten Momenten erscheint uns die Welt als fraglos sinnvoll. „Der Sinn des Sinns liegt darin, dass er in der Vielfalt und Gegensätzlichkeit der unendlichen Sinnperspektiven die Einheit exponiert, die dieses Glück ermöglicht.“ (2015, S. 239) Der befriedigende Zustand der Übereinstimmung von sinnlichen und vernünftigen Antrieben wurde einst Glückseligkeit genannt.

3. Volker Gerhardts philosophische Ahnherrn 

Das Interesse der Philosophie war von Anfang an auf Gott gerichtet. „Es ist bekannt, dass die ionischen Naturphilosophen das Göttliche als die Quelle, den Grund und das alles umfassende Ganze des von ihnen spekulativ erdachten Seins zu fassen versuchen.“ (2015, S. 70) Volker Gerhardt beginnt bei seiner exemplarischen Rekapitulation der Philosophiegeschichte bei den vermeintlichen Antipoden Heraklit von Ephesos - gemeinhin als „Philosoph des Werdens“ angesehen - und Parmenides – „Philosoph des Seins“.

Parmenides und Heraklit

Für Parmenides war das Sein unwandelbar, während für Heraklit alles im Fluss war. Einig waren sich beide Philosophen darin, dass man, um solche Aussagen machen zu können, ein übergeordnetes, alles umfassendes Allgemeines braucht, das uns als Erkennende durchdringt und uns erlaubt, überhaupt etwas als etwas festzustellen. Die Griechen nannten den Grund alles Erkennens Logos. Im alles verbindenden Logos ist das Göttliche überall anwesend und immer dasselbe. Es ist das, was tragend ist und immer bleibt, egal ob man es als unwandelbar Eines oder als das immer in Bewegung Seiende artikuliert. 

Platon

Nachdem Gott kein von der Welt getrenntes Wesen ist, kann das Göttliche in allen Erscheinungen des Daseins ermittelt werden. Gott ist das Zusammenhang und Einheit stiftende ordnende Prinzip und liegt als Sinn des Sinns allem zugrunde, was für den Menschen Bedeutung hat. „Gott hat eine die Identität von Mensch und Welt sichernde, Erkennen und Handeln tragende sowie das Erleben des Schönen und der Liebe befördernde Kraft.“ (2016 b, S. 16) Für Gerhardt hat Platon mit seiner Vorstellung von Gott, der in allem wirksam ist, die Philosophie über die Jahrtausende hinweg geprägt und ist in der gegenwärtigen Debatte erneut zur Geltung zu bringen.

Kant 

Kant hat aufgezeigt, dass man mit der reinen Vernunft, mit dem Verstand, weder bewiesen kann, dass Gott existiert, noch dass er nicht existiert. Es ging ihm dabei nicht darum, Gott zu erledigen, sondern er wollte der existenziell gehaltvollen Rede von Gott eine angemessene Grundlage geben. „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ (Kant) „Der metaphysische und zugleich lebenspraktische Raum, der dem Glauben auf diese Weise erschlossen und kritisch gerechtfertigt wird, ist der, in dem sich das Bewusstsein von der Gegenwart eines Göttlichen in der Einstellung und im Tun des Menschen als Gewinn an Sicherheit im Selbst- und Weltvertrauen erweisen muss.“ (2017 b) In Gerhardts Lesart ‘gibt‘ es für Kant „Gott nicht im Sinn eines empirischen Sachverhalts, wohl aber im Sinn einer moralischen Größe, an die man bereits glaubt, wenn man davon ausgeht, dass ein unter ethischen Prinzipien geführtes Leben auch im Ganzen des Daseins nicht sinnlos ist.“ (2015, 98) 

Damit der Mensch seinem Anspruch, gut zu handeln (kategorischer Imperativ), gerecht werden kann, formuliert Kant drei Postulate. Das sind notwendige Ideen, Annahmen, die nicht bewiesen werden können.

1. Das Postulat der Freiheit
Gott muss als vernünftiges Wesen angesehen werden und ist deshalb frei. Diese Freiheit muss auch für die unter Gottes Wirksamkeit gedachte Welt gelten. (vgl. 2015, S. 102)

2. Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele
Die personale Existenz des Menschen muss man sich in die künftige Zeit verlängert denken. Auch wenn der einzelne Mensch wenig zuwege bringt, kann er die Hoffnung hegen, „dass am Ende aller Dinge von einem glücklich erreichten Zustand gesprochen werden kann, in dem Vernunft und Sinnlichkeit zur Deckung kommen.“ (2015, S. 106)

3. Das Postulat vom Dasein Gottes
„Sosehr es in der Moralität um Ansprüche der allgemeinen Menschenvernunft und … auch um das menschliche Glücksverlangen geht, so wenig steht es in der Macht des Menschen, dieses … Ziel der Geschichte aus eigener Machtvollkommenheit zu erreichen“ (2015, S. 108) Der Mensch, der es ernst meint, und auf einen guten Ausgang seiner Bemühungen hofft, hat auf einen Beistand zu setzen. Diese Hilfe kann nur „aus dem Ganzen kommen, dem wir in allem zu vertrauen haben – auch weil wir selbst zu ihm gehören. Diese Quelle des Guten kann nicht anders als göttlich genannt werden.“ (2015, S. 109)

Seit der Kantischen Postulatenlehre gibt es in der Philosophie die Debatte, „ob und – wenn ja – wie denn auch Fiktionen wahr sein können. … Bereits Kants Zeitgenossen hat beschäftigt, was es denn bedeute, dass der Königsberger zur Überzeugung kommt, die obersten Begriffe der Vernunft – Gott, Freiheit und Weltganzes – müssten von dieser um ihrer eigenen Konsistenz willen notwendig gedacht werden, ohne von ihnen theoretisches Wissen gewinnen zu können, weshalb sie als notwendige Annahmen unter das Vorzeichen eines „als ob“ zu stellen seien. Kant spricht bezüglich dieser Inbegriffe auch tatsächlich immer wieder wörtlich von ‚Fiktion‘ oder „Erdichtung‘.“ (Müller, Klaus, in: Kühnlein 2016, S. 85)

Für Kant selbst war klar, dass etwas, das postulatorisch gedacht wird, nicht deswegen schon wahrheitsunfähig sein muss. Postulaten als fiktionale Annahmen kann Wahrheit „nur im Horizont einer holistischen Denkform zugesprochen werden, einer also, die … alle Weisen von Wissen im Letzten in einer Ganzheit von Verstehen zusammenführt, die als prozessualer Komplex eines Wirklichen zu denken ist, als dessen Element sich das Subjekt begreift.“ (Müller, ebd., S. 87) 

Kants messerscharfe Analyse des Gottesbegiffes läuft darauf hinaus, dass man nicht sagen kann, was Gott ist, aber der Mensch kann Gott denken und kann in dieser Annäherung ausloten, welche Bedeutung Gott für ihn hat. „Aus dem praktischen Lebensanspruch des Menschen ist Gott der Name für die Verbindlichkeit eines Ganzen, das den Sinn von allem garantiert, was immer für den Menschen Bedeutung hat.“ (2007) Im Glauben an Gott können wir hoffen, dass es eine asymptotische Annäherung zwischen dem höchsten moralischen Gut und dem individuellen Glück geben kann. Somit erweist sich – so Volker Gerhardt - der von Kant als unverzichtbar postulierte Gott als Einheitsgrund „alles verständigen Tuns, denn mit dem Streben nach Glück und dem Anspruch auf Selbstbestimmung vereinigt er alle denkbaren Motive unseres Handelns.“ (2007)

4. Das allem zugrunde liegende Ganze 

Gerhardts Buch beginnt mit folgenden beiden Sätzen: „Glauben ist ein existenzieller Akt. Er umfasst das Ganze eines Individuums und bezieht es auf das Ganze einer Handlungs- oder Lebenslage.“ (2015, S. 8) Wie man das verstehen kann, illustriert der Philosoph gut 35 Seiten später anhand eines Kinderliedes: 

Hänschen klein ging allein
In die weite Welt hinein
Stock und Hut steh'n ihm gut
Ist gar wohlgemut

Das verschwindend kleine Individuum geht nicht in die unvorstellbar große Welt hinaus, sondern hinein in das Ganze des Daseins, zu dem es gehört. So ganz allein ist Hänschen gar nicht, denn es ist die Geborgenheit, die er in seiner Familie erlebt hat, der er die Zuversicht verdankt, auf die Welt vertrauensvoll zugehen und an ihr zu wachsen zu können. Und die Welt wiederum ist gar nicht so weit weg, denn wir wussten schon von früh an, was Welt bedeutet, obwohl sie gleichsam der größtmögliche „Gegenstand“ ist.

Im Ganzen der Welt ist ein Teil vor allen anderen ausgezeichnet. „Und das ist der das Ganze erfassende, es für sein Handeln benötigende und als sein Gegenüber begreifende Mensch.“ (2015, S. 45) Der Mensch, der immer auch mit inneren Widersprüchen ringt, sehnt sich nach integrierender Einheit. Er kann sein „Vorbild in der Einheit eines mundanen Ganzen finden, das selbst aus widerstreitenden Kräften und scheinbar unversöhnlichen Gegensätzen besteht.“ (2013)

Die Grundbedingung eines rationalen Glaubens an das Göttliche ist die Selbstachtung. Ein sich selbst achtender Mensch kann der Welt offen gegenübertreten und vertrauensvoll auf das Ganze setzen, dem er sich aus freien Stücken selbst zurechnet und dem er einen Sinn zuschreibt, der im Ganzen begründet ist. Er begreift sich als Person und beansprucht eine Eigenständigkeit, die sich in einem von singulären Situationen unabhängigen Identitätsbewusstsein behauptet. „An ihm hängt die Überzeugung von einer … existenziellen Konsistenz des Ich, das auch im Augenblick radikaler Einsamkeit bei seinem Willen bleiben kann.“ (2015, S. 27) Jeder Mensch ist einzigartig, und deshalb kommen ihm Freiheit und Würde zu, die nicht relativierbar und von jedermann anzuerkennen sind. 

In einem philosophischen Begriff des Glaubens an das Göttliche geht es um das Ineinander von denkbar größter Abstraktion und höchster personaler Intensität. „Im Bewusstsein seines eigenen Wertes wird der Einzelne von der alles umschließenden Bedeutung des Ganzen angezogen, um darin als das Individuum, das er ist, vollkommen im Ganzen aufgehoben zu sein.“ (2016 c) Dieses Ganze kann nur als göttlich bezeichnet werden. Es ist „das Ganze der Welt – potenziert durch das Ganze, als das sich der Mensch versteht. In ihm kommen zwei Ganzheiten zu einer ganzheitlichen Verbindung, in welcher die Welt selbst eine personale Dimension erhält.“ (2015, S. 48)

5. Wissen und Glauben

Vor ein paar Jahren wandelte die für Atheismus und Agnostizismus eintretende Giordano-Bruno-Stiftung den Slogan eines Möbelhauses in ihrem Sinne ab: „Weißt du schon oder glaubst du noch?“ Volker Gerhardt antwortet darauf mit einer Gegenfrage: „Weißt du schon, dass du glauben musst?“ 

Die Kritik am Glauben fußt häufig auf der falschen Vorstellung, dass Glauben und Wissen Gegensätze seien. In bestimmten Fällen mag das so sein. So ist die biblische Schöpfungsgeschichte nicht ohne weiteres mit der Evolutionstheorie vereinbar. Aber grundsätzlich gilt: „Man muss bereits an das Wissen glauben, wenn man sich ihm anvertraut. Und dort, wo es endet, sind wir augenblicklich auf den Glauben angewiesen.“ (2014)

„Ohne Glauben ist alles Wissen seiner Vorzeitigkeit preisgegeben.“ (Kühnlein, in: Kühnlein, Hrsg., 2016) Der Wissensstand unserer Jetzt-Zeit ist immer ein vorläufiger. Zudem verfügt das Individuum, das eine Entscheidung zu treffen hat, selten über alle relevanten Informationen. Trotzdem handeln wir mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Gewissheit, weil wir zuversichtlich sind und daran glauben, auch auf lückenhafter Wissensbasis gute Entscheidungen treffen zu können.

Aber auch Glauben ist nicht ohne Wissen vorstellbar, denn der Gläubige will seinen Glauben mit guten Gründen praktizieren. Beginnend mit den hinduistischen Veden um 1000 v.Chr. wurden religiöse Überlieferungen aufgeschrieben und avancierten zu Glaubenslehren. Wenn wir einem religiösen Glauben anhängen, so ruht dieser immer auf den Wissensbeständen der jeweiligen Religion auf.

„Glauben und Wissen … fordern sich wechselseitig heraus, sind nur in gegenseitiger Anerkennung produktiv und gleichen ihre jeweiligen Mängel gegenseitig aus … Jedes Wissen ist mit einem es relativierenden Glauben verknüpft, jeder Glauben an ein ihn bedingendes Wissen gebunden.“ (2016 c, 203 f) Glauben und Wissen haben ihren unverzichtbaren Anteil an der Vernunft.

Empirische oder axiomatische Sätze und Glaubenssätze haben die gleiche logische und semantische Struktur. Es geht jeweils um eine Aussage zu einem Sachverhalt. Im ersten Fall im Bewusstsein garantierter Sicherheit, im zweiten mit fraglicher Gewissheit. Die markante Differenz von Wissen und Glauben besteht darin, dass Wissen angeben kann, was der Fall ist, während Glauben dem Wissen seinen Stellenwert zuweist und als eine Einstellung zum Wissen gekennzeichnet werden kann.

Das Zusammenwirken von Wissen und Glauben sei an zwei Beispielen demonstriert:

1. Als entwickeltes Industrieland verfügt die BRD über ein Schienennetz, auf dem regelmäßig und getaktet Züge verkehren. Der Fahrplan sagt uns, wann ein Zug in A eintrifft, der uns dann nach B bringen soll. Wieweit wir davon ausgehen, dass unsere Reise nach Plan verlaufen wird, ist eine Glaubenssache. Wie überzeugt bin ich, dass sich das Faktum Abfahrtszeitpunkt wirklich als Faktum erweist?

2. Um die friedliche Nutzung der Atomenergie gab es in der BRD einen langen Glaubensstreit. Die einen waren von der billigen und sauberen Energie begeistert, während die anderen die nicht verantwortbaren Gefahren für Mensch und Natur ins Feld führten. Das Faktum der Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 hat die Glaubenseinstellung von Bundeskanzlerin Merkel zur Atomenergie verändert und zu einem raschen Ausstiegsszenario geführt.

Der Begriff ‚Glauben‘ hat ein sehr breites Bedeutungsspektrum. Dieses reicht von ‚Meinen‘, ‚Vertrauen‘, ‚Überzeugung‘, ‚Erwartung‘ bis hin zu ‚Gewissheit‘. Gerhardt unterscheidet zwischen ‚epistemischem Glauben‘ (griechisch epistéme Wissen, Erkenntnis, Einsicht), der eng mit der Wissenschaft verknüpft ist, und ‚religiösem Glauben‘. 

Der epistemische Glaube ist ein unabdingbarer Glauben an das Wissen, der stets ein Glauben im Wissen ist, denn er besteht „in dem Vertrauen auf die jedes Wissen tragende Verbindung von Ich, Wir und Welt, die uns in der Form eines begrifflich zugänglichen Sachverhalts gegenübersteht.“ (2015, 176 f) Von einem persönlichen Ausgangspunkt aus kann das Individuum auf die Einheit der Wirklichkeit ausgreifen und sie glaubend als das umgreifende Ganze verstehen, dem es selbst als Ganzes gegenübersteht. Darüber hinausgehend bezieht der religiöse Mensch das von Bedeutung erfüllte Ganze auf Gott und sieht in ihm den Sinn von allem.

6. Religiöser Glaube 

In nachkantischer Zeit kann Gott kein Gegenstand des Wissens sein. Das hat den Vorteil, dass man dem geglaubten Gott keinen Ort zusprechen muss, weder innerhalb noch außerhalb der Welt. Gott lässt sich „als die allumfassende Wirklichkeit verstehen …, die in allem gegenwärtig ist.“ (2016 a, S. 62 f) 

Wenn wir an das Wissen, den Menschen, die Menschheit und den sie tragenden kulturellen Kontext glauben, liegt es nahe, auch die faktische Gegenwart des von Bedeutung erfüllten Ganzen anzuerkennen, das alles möglich macht. In der Unmittelbarkeit unseres Daseins sind wir von der Gegenwart eines Ganzen, das der Präsenz von uns selbst als personale Einheit korrespondiert, überzeugt.

Bei dieser philosophischen Rekonstruktion nicht stehen zu bleiben, ist das auslösende Moment des religiösen Glaubens. Wir suchen dann nach einem letzten Sinn unseres von Gegensätzen und Widersprüchen gekennzeichneten Daseins. Das religiöse Gefühl ist das Bewusstsein von einer Zugehörigkeit. Es ist „die Gewissheit, im Universum seine Heimat, sein Zuhause zu haben.“ (2015, S. 188) „Es ist mitnichten so, dass sich der Glauben primär als Abkehr von der Realität hervortut. Als Hoffnung, Vertrauen, Überzeugung oder Gewissheit legt er vielmehr den Grund für unser Realitätsbewusstsein und gibt uns Zuversicht bei jedem Schritt von einer durch Stimmungen versicherten Gegenwart in eine durch fragwürdige Wahrscheinlichkeiten angenommene Zukunft.“ (Vortrag 2018)

Wenn das existenziell geforderte Individuum nicht nur das Ganze anerkennend hinnimmt, sondern zu einer Haltung der Ehrfurcht vor dem Erhabenen findet, geht das Begreifen in ein Ergriffensein über. Damit ist der Schritt von einer metaphysischen Betrachtung zu einer religiösen Hingabe getan. In unserem sowohl verstandes- als auch gefühlsmäßig motivierten Vertrauen auf Gott können wir darauf „hoffen, als Ganze im Ganzen zur Ruhe zu kommen.“ (2016 a, S. 71). 

So können religiöse Motive den menschlichen Haltungen eine Bedeutung verleihen, die nach Gerhardt „weit über die konkreten Umstände“ hinausreicht: Wer in einer „verzweifelten und aussichtslosen Lage die Hoffnung […] nicht verliert und selbst das Opfer des eigenen Lebens im Vertrauen auf den Willen Gottes annehmen kann, gibt ein Beispiel für eine Kraft, aus der sich letztlich alles speist, was wahrhaft menschlich genannt werden kann.“ (2015, S. 337) Zwar werde diese Kraft oft als „menschlich“ begriffen, doch ist dies für Gerhardt allein unserem kulturell hoch entwickelten Souveränitätsverständnis geschuldet: Denn „angemessen ist dieses uns Tragende und über uns Hinausgehende nur zum Ausdruck gebracht, wenn wir es als göttlich bezeichnen.“ (ebd.)

7. Die Korrespondenz von Person und personalem Gott

Wie erfasst und deutet der Mensch seine Existenz in der Welt? Im denkenden Zugang zur Welt haben wir den Eindruck von ihr zu wissen, insgesamt aber können wir nur darauf vertrauen, dass sie so, wie wir sie mit unseren begrenzten Kenntnissen erschließen, tatsächlich ist und bleibt. Das ist der Ausgangspunkt von Gerhardts theologischer Kernthese:
Die Welt, in der wir leben und an die wir darum auch glauben, können wir, wenn sie uns in besonderen Augenblicken „als übergroß und übermächtig, vielleicht sogar als staunenswert, schön oder erhaben gegenübertritt, als göttlich erfahren … . Und wenn wir das Göttliche der Welt als uns personal Entsprechendes annehmen, können wir es, sofern wir uns selbst als Person begreifen und in ihr ein persönliches gegenüber suchen, als Gott ansprechen.“ (2015, S. 21)

Die Vorstellung eines personalen Gottes beruht auf zwei Basiselementen: das eine ist der Mensch, dem es „gelingt, die Unfassbarkeit seiner selbst in einen ihn selbst leitenden Begriff, nämlich in den der Person, zu transformieren“ (2016 b, S. 27) und das andere Element besteht darin, dass der Mensch „die von ihm benötigte Einheit der Welt nach Analogie der ihm selbst eine Form gebenden Einheit der Person unterstellt.“ (ebd.) Mit anderen Worten: Zwischen dem Personsein des Menschen und dem Göttlichem (an) der Welt besteht ein Entsprechungsverhältnis.

Der Münsteraner Fundamentaltheologe Klaus Müller bringt das so zum Ausdruck: „Sofern der Mensch sich selbst in seiner Personalität als staunenswert gewahrt, begegnet ihm im Staunenswerten der Welt etwas Kongeniales oder Konnaturales, das ihn ermutigt, eben jener Weltdimension Personalität zuzuschreiben.“ (2016, S. 81)

Der Mensch versteht sich, wann immer er in Aktion tritt, als ein Ganzes – als ein Individuum oder eine Person. Er versteht auch sein Gegenüber so, auch wenn er um die Uneinheitlichkeit oder innere Widersprüchlichkeit von Ganzheiten weiß. Das Kleinkind erlebt das familiäre Umfeld als Ganzheit, die ihm die Welt bedeutet. Im Verlauf der psycho-sozialen Entwicklung treten immer mehr Ganzheiten hinzu, wie Sprache, Umwelt, Freundeskreis, Schule, Heimat, Gesellschaft, Menschheit. So wächst der Mensch in eine Welt hinein, die alles umfasst, was für ihn Bedeutung hat, und eine universelle Ganzheit darstellt, die seit den Vorsokratikern und Platon als göttlich gilt.

Dem sich beim Heranwachsenden zunehmend ausbildenden existenziellen Bewusstsein der Identität als eines singulären, personalen ganzheitlichen Wesens kann nur das ins Göttliche überhöhte Ganze des Daseins entsprechen: „Das Gegenüber einer so exponierten … Person kann nur ein gegenüber allem exponiertes … Ganzes sein, dem der Titel des Göttlichen gebührt. Wir benötigen das Göttliche somit als die existentielle Kondition eines personalen Begriffs unserer selbst. Und diese existentielle Bedingung erlaubt es, das Ganze so anzusprechen, als sei es selbst eine Person. So kommt es zur Personalisierung des Göttlichen als Gott, das so nur in Korrespondenz zur Person des unter dem Eindruck des Göttlichen stehenden Menschen genannt werden kann.“ (2015, S.  27)

8. Die Modernität des Christentums

Die Liebesbotschaft des Jesus von Nazareth brachte etwas radikal Neues in die Welt. „Seine Haltung und die von ihm überlieferten Worte zeugen von einem Erleben des Geistes, der nicht aus vorgegeben Quellen schöpft. … Hier spricht ein Mensch, der sich im Ganzen seiner Person mit dem Ganzen des Daseins verbunden weiß.“ (2017 b)
Bei der christlichen Offenbarung geht es nicht mehr, wie noch in der alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte, um ein in mythisches Gewand gehülltes ‚Wissen‘ und auch nicht notwendig um das in den Evangelien aufgezeichnete historische Geschehen, sondern um die in der Liebe und im stellvertretenden Leiden Christi exemplarisch werdende reale Sinnbeziehung zum Göttlichen. 
Gerhardt kennzeichnet das Christentum als zeitlos modern und ist der Auffassung, dass auf diesen Glauben „vielleicht noch keine Epoche so sehr angewiesen (war) wie die sogenannte Wissensgesellschaft.“ (2016 d, S. 89)
Für die Modernität des Christentums führt Gerhardt verschiedene Aspekte an. Das Evangelium betont den Rang des Individuums und greift mit der Unterscheidung von weltlicher und göttlicher Herrschaft der Moderne vor. Das christliche Gottesbild ist weit und hat in der Heilszusage für alle Menschen eine globale Perspektive. Die mit der unbedingten Nachfolge einhergehende Selbstverleugnung kehrt sich in christlichem Verständnis in Selbstgewinnung um. Das ist die Grundfigur der modernen Ethik: „Man hat sich als Individuum zu entschließen, einem allgemeinen Gesetz zu folgen, und gelangt nur dadurch zur autonomen Bestimmung seiner selbst.“ (2016 d, S. 99) Was bei Paulus und im Johannes-Evangelium grundgelegt ist, ermöglicht Origines und den Kirchenvätern die unüberbietbar moderne (weil perspektivische, S.S.) Deutung des einen Gottes in seiner Dreifaltigkeit. 

Zusammenfassung

1882 konstatierte Friedrich Nietzsche Gott ist tot. Hundert Jahre vorher erschien Kants Kritik der reinen Vernunft (1781), in der Kant die Unmöglichkeit von Gottesbeweisen aufzeigte. Dies war der Ausgangspunkt für das Aufkommen des Nihilismus-Begriffs um 1800. Während sich viele intellektuelle Zeitgenossen auf Kant beriefen, als sie sich des Themas Gott entledigten, vollzog der Königsberger die lebenspraktische Wende und postulierte das Dasein Gottes im Bereich der praktischen Vernunft. „Im religiösen Glauben kann es nur um das gehen, was uns Gott für die Lebensführung des Menschen bedeutet.“ (2017 a) So wie Platon, Kant und Whitehead Gott in einem systematischen philosophischen Denksystem für unverzichtbar halten, hebt auch Volker Gerhard auf das Göttliche als dem Sinnhorizont des menschlichen Daseins ab. 
Der ernsthaft handelnde Mensch muss seine Entscheidungen angesichts einer nur bedingt antizipierbaren Zukunft treffen und bedarf an der Grenze seines Wissens einer Sinnperspektive, die nur erwünscht, erhofft oder geglaubt werden kann. Jegliches Agieren des Individuums in der Welt setzt ein fundamentales Vertrauen in die Welt und in sich selbst voraus, was ohne einen beide tragenden Grund nicht möglich ist. Es ist die umfassende Einheit des Göttlichen als Sinn des Sinns, die das menschliche Selbst- und Weltvertrauen zuallererst ermöglicht und jedem einzelnen Handlungssinn zugrunde liegt. 
Der Mensch als Person muss sich mit der Welt, in der lebt, ins Benehmen setzen. Als individuelles Ganzes bezieht er sich auf die mehr oder weniger vollkommene Einheit eines universellen Ganzen und kann so erst ein Selbst- und Weltverständnis ausbilden. Das so erhobene Selbst kann über die rationale Konstitutionslogik hinausgehen und das Göttliche als seinen persönlichen Gott ansprechen.
Der Glauben „hat seine Einzigartigkeit im Bewusstsein der Gleichursprünglichkeit der eigenen mit der göttlichen Präsenz. Darin hat das Bewusstsein der menschlichen Freiheit eine universelle Dimension. Im Glauben an die Unsterblichkeit liegt die Verheißung einer Unverbrüchlichkeit der personalen Existenz, die unter keinen Bedingungen aufgegeben werden kann. Und das höchste Gut scheint im Augenblick so anwesend zu sein wie die von allen zeitlichen Fesseln befreite Ewigkeit im Dasein Gottes.“ (2017 a)
Volker Gerhardt versucht die Grenzen philosophisch legitimierter Metaphysik bis zum Äußersten auszudehnen. Jenseits dessen greift ein Satz Ludwig Wittgensteins: „Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube.“


Quellen Volker Gerhardt

2002:    Immanuel Kant: Vernunft und Leben (Reclam)
2007:    Glauben unter den Bedingungen des Wissens. In: Kirchenamt der EKD (Hg.). EKD Texte 90. 2009
2009:    Gott als Sinn des Daseins. Vortrag am 26.04.2009 in Erfurt
2013:    Das Göttliche als Sinn des Sinns. Vortrag im Juni 2013 in Berlin 
2014:    Über das Göttliche und den Sinn des Sinns, Neue Zürcher Zeitung 06.12.2014
2015:    Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche. 3. Auflage 
2016 a: Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang. 
2016 b: Das Göttliche als Sinn des Sinns. Über die wechselseitige Angewiesenheit von Glauben und Wissen. In: Kühnlein (Hg.). Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt. Seite 11 – 28 
2016 c: Vom Grund zum Sinn. Ein philosophischer Zugang zum Göttlichen. In: Kühnlein (Hg.). Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt. Seite 199 – 238 
2016 d: Die zeitlose Modernität des Christentums. In: Braune-Krickau / Scholl / Schüz (Hg.). Das Christentum hat ein Darstellungsproblem: Zur Krise religiöser Ausdrucksformen im 21. Jahrhundert. Seite 76 -108
2017 a: Religion unter dem Anspruch politischer Vernunft: Immanuel Kant.In: Hidalgo / Polke (Hg.). Staat und Religion. Zentrale Positionen zu einer Schlüsselfrage des politischen Denkens. 
2017 b: re-visionen. magazin. Volker Gerhardt im Gespräch mit Eckart Löhr. 2.11.2017 
2018:    Glauben als Partizipation am göttlichen Ganzen. Aspekte einer Theologie des humanen Sinns. Vortrag am 17.11. im München 

Weitere Quellen

- Henrich, Dieter. In Deutschlandradio Kultur: Der Gott im Ich. Der Philosoph Dieter Henrich verteidigt den Geist gegen naturwissenschaftliche Allmachtsansprüche. Von Marius Meller, 2008
- Kühnlein, Michael (Hg.): Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt. 2016
- Kühnlein, Michael: Gott im Ganzen – der ganze Gott? Volker Gerhardt über die Selbstformel unseres Daseins. In: Kühnlein (Hg.) 2016, Seite 129–142
- Müller, Klaus: Der „Panentheistic Turn“ nimmt Fahrt auf. Überlegungen zur Transformation des Theismus in Volker Gerhardts philosophischer Theologie Der Sinn des Sinns. In: Kühnlein (Hg.) 2016, Seite 79–90